Kim Leine und Julia Weitbrecht

Die Propheten vom Ewigkeitsfjord, eine zweisprachige Autorenlesung

Kim Leine las auf Einladung des Husumer Kunstvereins 

Kaum wiederzuerkennen, der dänische Autor Kim Leine ohne sein volles blondes Haupthaar, stattdessen mit Glatze und Ziegenbärtchen. An den Augen konnte man ihn schon erkennen und diese blickten auch lebhaft in die Runde der Literaturfreunde, die sich auf Einladung des Husumer Kunstvereins in die schönen Jugendstil-Räumlichkeiten der Diakonie begeben hatten.

Kim Leine versteht gut Deutsch, antwortete jedoch auf Dänisch, flott übersetzt von der auch als Moderatorin fungierenden Julia Weitbrecht. Diese stimmte durch ein kleines Vorab-Interview die Besucher auf den Autoren und die grobe Zielsetzung und Handlung des Grönlandromans ein, für den Kim Leine  2014 mit dem Literaturpreis ausgezeichnet worden war.

Selbst lebte er von 1990 für mehrere Jahre auf der von den Dänen kolonialisierten Insel und versuchte so viel wie möglich über die Traditionen, die Lebensweise und die komplizierte Sprache der Ureinwohner herauszubekommen. 17 Jahre später ist er zum Schriftsteller geworden und gibt sein erstes Werk heraus, dem in den nächsten beiden Jahren zwei weitere folgen. 2012 gelingt ihm der große Wurf mit dem "Ewigkeitsfjord", so der deutsche Titel, der ihm mehrere Auszeichnungen einbringt. Im Übrigen bezieht sich die Geschichte zum Einen auf die historischen Persönlichkeiten Habakuk und Maria Magdalena, zwei als Erwachsene getaufte Inuit, die an jenem Ewigkeitsfjord eine Siedlung reformierter, von Kirche und Handelskolonieverwaltung weitgehend unabhängiger Eingeborener gründeten. Zum Anderen geht es um den fiktiven Protagonisten Morten Falck. Der einzige überlebende Sohn eines in Norwegen lebenden Dorfschulmeisters wird nach einer bedrückenden Kindheit und Schulzeit zum Theologiestudium nach Kopenhagen geschickt. Schon bald entdeckt er seine Liebe zu den Naturwissenschaften, skizziert Pflanzen und hört so viele medizinische Vorlesungen, wie er es neben dem Pflichtstudium ermöglichen kann. Allerdings ohne Hoffnung auf einen Abschluss, da sein Vater dem nicht zustimmen würde. Entsprechend mäßig fällt sein Examen in Theologie aus, allerdings begeistert seine Abschlusspredigt einen höher gestellten Geistlichen, der ihn nach Grönland "schickt".

Dankbar, den Komplikationen in seinem Privatleben zu entkommen, nimmt er an, voll der Hoffnung, geistiges Neuland zu betreten. Dem ist nicht so... Es gibt die "Wilden", die zutiefst unglücklichen Koloniedänen und die wurzellosen und verzweifelten Bastarde, Mischlinge, die von keiner Gruppe akzeptiert werden. Und es gibt Habakuks Siedlung am Ewigkeitsfjord.

Kim Leine schildert und schreibt teils ausladend und der Sprache der erzählten Zeit des späten 18. Jahrhunderts nachfühlend. Stellenweise auch lakonisch und in angedeuteten Beobachtungen des Morten Falck als personalem Erzähler. Das verleiht seinen inneren Monologen eine Distanziertheit, erlaubt unfertige Gedankengänge. Das Präsens als Erzählzeit mag dazu dienen, den Leser stärker in das Erleben mit einzubinden, ist jedoch ungewohnt und nicht besonders angenehm. Das gilt auch für drastisch brutale Szenen (Sex, Blut und Exkremente), die für das Verständnis der Handlung nicht immer unbedingt notwendig erscheinen und dem Ganzen einen Touch Reißerisches geben. Sollen sie die Belohnung für das Durchhalten beim Lesen der zäheren Teile darstellen? Oder schreibt sich Kim Leine hier auch wie schon in "Kalak" seine persönlichen Berührungen mit Bigotterie, sexuellem Missbrauch und Rausch von der Seele. So skurril der Text auch klingen mag, er wirkt auf keinen Fall "unecht". Schon interessant ist die Idee, das Liebesleben, besser gesagt Sexualverhalten Falcks parallel zu seiner jeweils erreichten philosophischen Erkenntnisstufe zu sehen. Es markiert die Wendepunkte in seiner persönlichen Entwicklung.

Aufklärung, Pietismus, Revolution und Imperialismus/ Kolonialismus spiegeln sich im Verhalten der zahlreichen Nebenfiguren ebenso wie in der von Widersprüchen mal gelähmten, mal getriebenen Figur des Morten Falck. Schwer, wenn nicht unmöglich, sich mit einer der Figuren zu identifizieren. Und dennoch: einen langen Atem vorausgesetzt, ein fesselndes Buch mit großartig geschriebenen Bildern.

Nach kurzer Begrüßung durch Dr. Maria Leuker-Pelties von Kunstverein Husum und der Anmoderation las Kim Leine drei Textpassagen auf Dänisch, welche jeweils anschließend von dem Schauspieler Tom Keller sehr eindrucksvoll auf Deutsch vorgetragen wurden. Zwischendurch wurde immer wieder auf die Bedeutung der Passagen und Figuren für das Gesamtwerk eingegangen. Dadurch dauerte die Lesung volle zwei Stunden, was zwischendurch recht anstrengend wurde, zumal längst nicht alle genug Dänisch verstanden.

Andrea Claussen