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Der Maler und der Seeadler
Sonderausstellung mit 150 Werken von Klaus Fußmann
„Sie gehen daher wie Schatten und machen sich viel vergebliche Unruhe; sie sammeln und wissen nicht, wer es einbringen wird.“ Psalm 39,7. Es war ein guter Plan für diesen trostlos kalten Sonntagnachmittag, die vor kurzem eröffnete Ausstellung in der ehemaligen Reithalle von Schloss Gottorf zu besuchen.
Werkschau anlässlich des 80. Geburtstags des Malers Klaus Fußmann, eine Hommage an den Künstler. Vor Jahren war Paula dem Maler persönlich begegnet, während der Arbeit in einer Kunsthandlung der kleinen Stadt, in der sie lebte. Einige Male war er ins Geschäft gekommen, hatte neue Werke gebracht oder die Platzierung seiner Bilder in den Verkaufsräumen und Schaufenstern überprüft. Hatte wenige, knappe Worte an sie gerichtet. „Weiter nach links. Nein, so nicht. Ja, so geht’s wohl.“
Schon damals hatte sie beim Betrachten seiner Landschaften und Blumenmotive gespürt, dass da viel mehr war, als der Maler in diesen zum Verkauf bestimmten Werken preisgab; der Schwung der Pinselführung und das Leuchten der Farben atmeten Ungezügeltes, neben den Linien lauerte Wildheit, something, not to be tamed. Die Wucht einer Wolkenformation über den sattgelben Rapsfeldern konnte sie schwindelig machen ebenso wie der sämige Auftrag der Farbe in der Darstellung der Ostsee, unweit deren Küste der Maler seit Jahrzehnten die Sommer verbrachte, er liebte die Plein-Air-Malerei. Auch der Zuschnitt der kleinen oder mittelgroßen Formate, der nicht immer rechtwinklig war, sondern eine Ecke verlor oder an den Rändern ausfranste, verstärkte Paulas Eindruck, dass sich hinter den gefälligen Bildern unberechenbare Tiefe verbarg, eine unbekannte Dimension.
Als Paula auf der Schlossinsel aus dem Auto stieg, sah sie am Ufer des Sees einen Mann mit Spektiv und Fernglas. Sie ging auf ihn zu und fragte, ob die Ankunft besonderer Vögel zu erwarten sei. „Die sind schon da“, lächelte der Mann in Rangerhosen und Windjacke und trat einen Schritt zur Seite. „Schauen Sie mal, dort drüben, am anderen Ufer: Ein Seeadlerpärchen bei der Brut.“ Sie presste ihr Gesicht an die Linse. Es dauerte eine Weile, bis sie die richtige Schärfe eingestellt und den gut getarnten Horst im noch blattlosen Gezweig ausgemacht hatte. Dann aber erkannte sie den großen Vogel, der sich flachrückig ins Nest drückte, sie sah den Kopf mit dem gewaltigen Schnabel, die gelb umringten Augen, das braun- und ockerfarbene Gefieder, das der Seeadler schüttelte, während er den behäbigen Körper sanft ruckelnd in die richtige Lage neben seiner Brut wälzte.
„Im Horst hockt das Weibchen, es ist viel größer als das männliche Tier. Links daneben sitzt das Männchen in einer Astgabel.“ Der Seeadlervater wandte seiner Familie den Rücken zu und hielt den Blick unbeirrt über das spiegelglatte Wasser in die Ferne gerichtet. Zwei Küken hatte das Paar, eins war erst am Mittag desselben Tages geschlüpft, vor den Augen des Beobachters. Der Blick durch das Fernrohr hob den Raum scheinbar auf, bezog der verzogene Abstand Fremdheit oder Gewissheit ein? Die Vögel waren weit entfernt, unerreichbar. Und doch zugleich ganz nah. Was war hier Wirklichkeit, die Ferne oder die Nähe? Beides zugleich?
Auf dem Weg zur Ausstellung war Paula sich nicht mehr sicher, ob sie sich nach dem Anblick der Ehrfurcht gebietenden Tiere überhaupt noch auf Blumen und Landschaften in Aquarell oder Öl einlassen wollte. Aber schließlich war sie wegen der Bilder hierher gekommen, also kaufte sie ein Ticket und betrat die abgedunkelte, temperierte Reithalle, in der nichts mehr nach Pferdeäpfeln und Schweiß roch, und doch hatte sie bei früheren Besuchen, besonders an frostigen Wintertagen, manchmal ein Schnauben und Hufescharren vernommen, ganz leise nur, kaum hörbar, vielleicht sogar nur eingebildet, was sonst.
Bereits auf den ersten Blick zogen die Bilder sie in ihren Bann. Stillleben. Verlassene Räume, in denen noch der Geruch vergangenen Lebens hing wie kalter Zigarettenrauch, oder wie ein Parfüm, das sich magnoliensüß in fadenscheinige Gardinen krallte. Verlorenes, Aufgegebenes. Farbtuben, Pinsel, Lappen, die an der Tischkante lagen, es folgte die weitflächige Leere des Tisches, im Hintergrund die Andeutung eines Fensterkreuzes, gedämpfte Farben, verwaschene Linien, trübes Licht. Porträts. Eine Frau in vorgebeugter Haltung, wenig vorteilhaft, ohne jede Schmeichelei. Aber voller Aufrichtigkeit, voller Anmut. Stärker als zuvor spürte Paula die bereits erahnte Energie der Bilder, das Abweichen von der Norm des Gefälligen. Die vergebliche Unruhe der Menschen, die aus Spiegeln oder vom Himmel fielen, sich ein Tuch wie ein Feigenblatt vor den Körper hielten oder die eigenen Leiber als Schatten verdoppelten. Stumm standen Männer und Frauen, eingeflochten in winterlich kahles Astwerk, in der weiten, schweigenden Landschaft. Engel, abgestürzt. Gemälde, die eher Reliefs denn Malerei glichen, so üppig pastos hatte der Künstler die Farben aufgetragen. Paula ging rückwärts bis ans Ende der Halle, erst jetzt nahmen die Linien und Flächen der Bilder Form und Gestalt an. Der Aha-Effekt war beinahe eine Erlösung: Ja, ein Rapsfeld, ja, Weidengruppe am Feldrand, ja, schmaler Küstenstreifen vor windgepeitschten Ostseewellen. Form und Bedeutung, Sinn, aufgefächert und erfahrbar für einen Atemzug im Pulsschlag der Zeit. So fern und doch zugleich ganz nah. Raben flogen über der winterlichen Feldmark auf, nur fort von der Fensterbank, auf der ein Totenschädel lag. Aber nicht der hatte sie aufgescheucht, sondern der Maler, der den Raum betrat, die flüchtigen Vögel ins Auge fasste und durch seinen Blick in die Unendlichkeit trug. In einem Seitenraum lief in Endlosschleife der Videomitschnitt eines Interviews mit dem Künstler. Der Maler in einem verfallenen Berliner Abbruchhaus, am Ostseestrand, im Rapsfeld, im Bauerngarten. Einblicke in seine alltägliche Arbeitsweise. Er sprach über die Vanitas-Motive seiner Bilder. Über die Vergänglichkeit und den Augen-Blick der Sinnhaftigkeit, der aus Mut ebenso wie aus harter Arbeit entsprang, gepaart mit etwas anderem, größerem. Gnade, vielleicht, dachte Paula und trat vor das nächste Bild.
Noch einmal ließ sie ihren Blick über die Gemälde in der Halle gleiten und spürte, wie ihr Herz sich weitete und von Sehnsucht geflutet wurde, von einer Melancholie, die gleichzeitig schmerzte und linderte. Sie verließ die Ausstellung, erschöpft und doch erfüllt wie nach einem Bad in stürmischer See ging sie über den Schlosshof und stellte sich neben den Seeadlerschützer. „Das Männchen füttert gerade, während sich das Weibchen ein bisschen Bewegung verschafft, hat ja auch lange genug gesessen.“ Paula spähte durch den Sucher. Mit gebogenem Hals stopfte der Adlervater dem Jungen Fischbrocken in den Schlund. Deutlich sah sie den hellen Kopf des Kükens. Während das Elterntier weitere Leckerbissen aus dem Depot am Rande des Nestes fischte, wiegte sich die weiße Flaumkugel ungeduldig hin und her, fast meinte Paula, das Piepsen des hungrigen Vogelkindes zu hören. Sie drehte das Spektiv und nahm das Adlerweibchen in den Blick, mit ausgebreiteten Schwingen schwebte es wie schwerelos über dem Nest im Blau. Die Raben auf dem winterlichen Stillleben des Malers und der Seeadler hoch am Himmel über dem See wurden eins. Angel of the Sky. Da war er wieder, dieser eine Augenblick des in die Zeitlosigkeit geworfenen Ankers. „Licht ist dein Kleid, das du anhast, du breitest aus den Himmel wie eine Zeltbahn.“ Psalm 104,2.
(c) Benedikta zu Stolberg 2018