Analyse: Privater Neubau hilft nicht gegen Wohnungsnot

Der private Wohnungsbau, auf den die Politik bei der Bekämpfung der Wohnungsnot in großen Städten vorrangig setzt, schafft so gut wie keine bezahlbaren Mietwohnungen. 95,3 Prozent der privaten Neubau-Wohnungen in den 20 größten deutschen Städten sind für die Mehrheit der deutschen Mieter nicht bezahlbar.

Das ist das Ergebnis einer Marktanalyse, die das ARD-Politikmagazin "Panorama" des NDR im Ersten mit Hilfe der empirica-systeme Marktdatenbank vorgenommen hat.

Demnach sind in München die Mieten von lediglich 8,2 Prozent der angebotenen privaten Neubauwohnungen bezahlbar. In Köln sind es 5,7 Prozent, in Hamburg 5,1 Prozent, in Dresden 3,5 Prozent, in Frankfurt am Main 2,6 Prozent, in Berlin 2,5 Prozent. Schlusslicht unter den 20 größten Städten ist Düsseldorf mit 2 Prozent. In vielen kleineren Städten ist die Lage sogar noch dramatischer: In Kiel etwa sind nur 2 Prozent der angebotenen Neubauwohnungen bezahlbar, in Offenbach 1,3 Prozent, in Karlsruhe 1,2 Prozent und in Ingolstadt 1,1 Prozent. Im bundesweiten Schnitt sind derzeit 16,5 Prozent der angebotenen Neubauwohnungen bezahlbar. 2014 waren es noch 27,4 Prozent.

Ausgewertet wurden Mietangebote im Zeitraum Mai 2015 bis Mai 2016. Sämtliche Ergebnisse zu 30 deutschen Städten sind auf www.panorama.de zu finden. Als "bezahlbar" gilt neben anderen Kritieren (siehe unten) nach den allgemein anerkannten Maßstäben des Eduard Pestel Instituts eine Nettokaltmiete, für die maximal 30 Prozent des verfügbaren Haushaltsnettoeinkommens aufgebracht werden muss. Die Daten belegen erstmals, was schon lange vermutet wurde: dass vor allem in den Städten und Metropolen, die besonders unter der wachsenden Wohnungsnot leiden, von privaten Investoren vor allem im oberen Preis- und Luxussegment und damit am Bedarf der breiten Mehrheit vorbei gebaut wird. "Die Zahlen belegen ein wohnungspolitisches Desaster", sagt dazu Ulrich Ropertz, Vorsitzender des Deutschen Mieterbundes. "Bezahlbare Neubauwohnungen im mittleren Preissegment werden in Städten praktisch nicht gebaut und daher kaum angeboten. Um das zu ändern, muss die Politik die richtigen und notwendigen Anreize für potenzielle Investoren setzen."

Für die Politik sind die neuen Zahlen ein großes Problem, weil Bund, Länder und Kommunen die benötigten Wohnungen nicht alleine bauen können. Die Bundesregierung geht davon aus, dass bis 2020 jährlich 350.000 bis 400.000 Wohnungen neu errichtet werden müssen. Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD) zu "Panorama": "Wir sind angewiesen auf die freie Wohnungswirtschaft. Die freie Wirtschaft brauchen wir auf jeden Fall." Auch der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) setzt auf private Investoren, um die Wohnungskrise zu bewältigen: "Ich fände es sehr gut, wenn Unternehmen, die Kapital anzulegen haben wie zum Beispiel Banken und Versicherungen, sich wieder stärker im Wohnungsbau engagieren. Das könnte uns wesentlich voranhelfen", sagt er "Panorama". Jetzt zeigt sich aber, dass diese privaten Investoren so gut wie keine bezahlbaren Wohnungen schaffen. Als Gründe für die teuren Neubauwohnungen nennen Experten neben hohen Renditeerwartungen der Investoren auch die hohen Preise für Baugrundstücke sowie viele unterschiedliche Regulierungen von Energieverordnungen über Brandschutzpflichten bis zu Stellplatzvorgaben.

Die Wohnungskrise betrifft dabei zusehends die Mitte der Gesellschaft: "Das Problem des nicht vorhandenen bezahlbaren Wohnraums trifft etwa zwei Drittel der deutschen Mieterhaushalte. Das sind fast 15 Millionen Mieterhaushalte, die sich nicht mehr frei am Markt bedienen können", sagte Dietmar Walberg, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen, zu "Panorama". Es sei auch nicht zu beobachten, dass teure Neubauwohnungen zu einer Entlastung des übrigen Mietmarktes führen. "Es gibt die Theorie des sogenannten Sickereffektes. Das heißt, ich baue hochpreisigen Wohnraum, räume damit etwas günstigeren Wohnraum, räume damit etwas noch günstigeren Wohnraum und am Ende entsteht sehr günstiger Wohnraum. Diese Theorie funktioniert in der Praxis leider nicht", so Walberg zu "Panorama". Vielmehr seien bei frei werdenden Wohnungen Modernisierungen und Mieterhöhungen die Regel. "Das heißt, dass hochpreisiger Wohnraum in der Regel eher dazu führen wird, dass die Mieten insgesamt steigen", so Walberg zu "Panorama". Als Berechnungsgrundlage der "bezahlbaren" Miete dient nach dem Eduard Pestel Institut eine Verdopplung des örtlichen Satzes der SGB II-Leistungen. So ergeben sich regional unterschiedliche Werte: In München etwa gilt eine Wohnung demnach als bezahlbar, wenn sie für eine Kaltmiete von bis zu 13,94 Euro pro Quadratmeter angeboten wird. In Leipzig hingegen liegt der Wert bei 5,66 pro Quadratmeter. Als allgemeiner Richtwert für bezahlbares Wohnen gilt im bundesweiten Schnitt eine Wohnung, wenn sie kalt 7,50 Euro pro Quadratmeter kostet.

Die Daten von Panorama basieren auf der empirica-systeme Marktdatenbank, die sich auf Marktinformationen zahlreicher Immobilienmarktplätze stützt. Aus mehr als 100 Datenquellen (Online und Printmedien) werden seit 2012 fortlaufend Stichproben zum Marktgeschehen auf den deutschen Wohnungs- und Gewerbeimmobilienmärkten gezogen. Die Differenziertheit der Quellen gewährleistet eine überregionale Vergleichbarkeit.

"Panorama": Donnerstag, 23. Juni, um 21.45 Uhr im Ersten

(NfI)