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Benedikta zu Stolberg, Himmel ohne Sprache, 2021
Rezension
Der neue Roman der Husumer Schriftstellerin Benedikta zu Stolberg handelt von einer Frau, die ihren Lebensmittelpunkt neu verorten muss und ihren Weg dorthin.
Lissa Dornwald, geschieden mit einer erwachsenen Tochter, muss ihren fünfzigsten Geburtstag allein verbringen, gefangen in düsterer Einsamkeit und tendenziell rückwärtsgewandt. Ihr wird bewusst, dass sich etwas ändern muss, aber wie soll sie vorgehen?
Sie entstammt einer nordfriesischen Bauernfamilie, die Großeltern hatten ein dunkles Geheimnis. In der Nazizeit, d.h. im 2.Weltkrieg, kam ein polnischer Zwangsarbeiter, wohl ein zugewiesener Kriegsgefangener, nach übelster, menschenunwürdiger Behandlung auf ihrem Hof zu Tode, was dann als Selbstmord getarnt worden war und fortan totgeschwiegen wurde. Lissas Bruder Colin verfolgt diesen Fall mit großer Verbissenheit und verliert sich fast darin. Deshalb ist er seiner Schwester keine Stütze, sondern ein weiteres Sorgenkind. Doch gehen zwei entscheidende Impulse von ihm aus. Zunächst fordert er Lissa auf, sich aktiv für ein Ziel, für andere einzusetzen. Das und eine zufällige Begegnung führt Lissa zu der Aufgabe, einen Flüchtling und seine Freunde zu betreuen. Zum Weihnachtsfest lässt der Bruder ihr außerdem das alte Tagebuch (1906-1920) einer fast vergessenen Großtante aus Yorkshire zukommen, dessen Lektüre Lissa ihr Leben mit der Zeit aus einem neuen Blickwinkel beurteilen lässt. Mit der Figur dieser Frances erscheint die zweite Akteurin. Zwar nehmen die ihr gewidmeten Kapitel den geringsten Raum ein, doch erlauben sie einen unerwartet offenen Blick in ein besonderes Schicksal.
Eine der Hauptperson ebenbürtige Rolle spielt der aus Eritrea geflüchtete Yemane. Er ist nach vielen Irrfahrten und lebensbedrohlichen Situationen erst in Italien und dann in der Bundesrepublik gelandet. Nur ein Kirchenasyl kann ihn davor bewahren, in das völlig überlaufene Erstankunftsland zurückgeschickt zu werden. Der zweifache Familienvater ist in einem Sandsturm nach einem Unfall von seiner Frau und den Kindern getrennt worden und erfährt lange Zeit nichts über ihren Verbleib. Obwohl er einen Master in Agrarwissenschaften hat und sogar an einer Universität lehrte, konnte er seiner Familie kein gutes Leben ermöglichen, da er zu einem erweiterten Militärdienst gezwungen wurde. Hier im kalten Norden Deutschlands muss er sich zunächst mit einem Hilfsarbeiterjob im Bauhof begnügen, ohne dabei zu wissen, ob sein Asylantrag anerkannt wird.
Wer das Buch, das aus drei Perspektiven geschrieben worden ist, liest, wird unweigerlich in die sehr unterschiedlichen und doch nicht unbekannten Probleme der Personen hineingesogen. Ihre sich anbahnenden Kontakte und die damit verbundenen Konflikte. Besonders anschaulich vermag die Autorin das Gedankenkarussell der Hauptpersonen nachzuzeichnen. Es sind Menschen, die auf eine Art sehr fest zu ihren Anschauungen stehen, andererseits durch in ihrem Leben auftretende Mängel und Umstände zu Handlungen geführt werden, die sie unter „normalen“ Umständen abgelehnt hätten. Wenige Male nur haben oder ergreifen sie die Gelegenheit, sich miteinander oder mit Dritten auszusprechen. So entstehen aus Fantasien und Wunschdenken, aus Pflichtbewusstsein und Wahrheitssuche, aus Überforderung und Fehleinschätzungen lange Perioden der inneren Vereinsamung, die sich aber beginnend im letzten Drittel bis hin ganz zum Schluss nacheinander auflösen. Mal geschieht dieses eher plötzlich, wie es bei Colin der Fall ist. Mal wird nur der Ansatz eines neuen Weges klar. Auf einige Fragen kann keine Antwort gegeben werden, aber die letztendlich innere Stärke, die jede Figur auf ihre Weise trotz aller Probleme besitzt, behält schließlich die Oberhand. Für alle geht es jedenfalls darum, etwas loszulassen und neue Erkenntnisse zu gewinnen, auch die, dass es so etwas wie Gnade und Vertrauen auf sein Schicksal gibt. Die Autorin hat durch ihre jahrelange intensive Unterstützung tiefe Einblicke in das Schicksal eritreischer Geflüchteter nehmen können und weiß, worüber sie schreibt. Ein Grund mehr, Zeit mit diesem Roman zu verbringen und sich auf seine besondere poetische Sprache, die für manchen gewöhnungsbedürftig sein mag, da sie anfänglich stellenweise mit zu vielen Metaphern arbeitet, einzulassen.
Andrea Claussen