Märchenhafte Szenen auf der NordArt 2021

Am 5. Juni 21 öffneten die großen Hallen der ehemaligen Carlshütte in Büdelsdorf bei Rendsburg endlich wieder ihre Tore zu einer der größten Kunstausstellungen Europas. Nordfriesen.Info durfte sich vorab umschauen.

Wir hatten einen unverstellten Blick auf ein breites Spektrum zeitgenössischer Kunst aus aller Welt. Etwa 1000 Arbeiten von 3000 Einreichungen fanden dieses Jahr ihren Platz. Ebenso wie die der Preisträger vergangener Jahre. Das Besondere an der NordArt war schon immer, dass sie den Horizont nach Osten erweitert, und zwar von Polen und Tschechien über die baltischen Staaten bis nach China und Japan. Doch sind auch westeuropäische und süd-/nordamerikanische Künstler vertreten.

Der Länder-Focus liegt dieses Jahr auf Kunst aus der Ukraine. „Grenzen der Realität“ lautet das Motto. „Kunst stellt Fragen und sucht Antworten. Was bedeutet es, ein Mensch zu sein ohne die Grenzen der Realität? Wir können miterleben, wie Kunst neu gewonnene Erkenntnisse erforscht und mit früheren zivilisatorischen Hinterlassenschaften vergleicht, um einen neuen konzeptuellen Apparat für die Navigation in einer Welt zu entwickeln, in der die Realitäten sich auflösender Grenzen kollidieren, sich überschneiden, im Widerstreit sind und Erkenntnis suchen.“ (Evgen Karas und Darina Momot, Kuratoren des ukrainischen Pavillons). Besonders beeindruckend die Arbeiten von Anastasiia Podervianska aus textilen Materialien, die im ersten Moment wie Memory-Quilts aussehen, dann aber bei näherem Hinsehen beunruhigend und aufwühlend wirken. Sie spiegeln ein Gefühl, das für mich auf folgende Aspekte des Lebens in der Ukraine anspielt: Der Körper des Menschen gemartert durch kriegerische Auseinandersetzungen und Atomunfall, im Gegensatz dazu das Weiterleben bunter und lebensfroher Traditionen in der Volkskunst, Zitate aus klassischer europäischer Kunst, die auf eine lange künstlerische Tradition anspielen, persönlicher Lebenserfahrung, Kreativität und Unruhe. „Kombinationen aus (scheinbar) Unvereinbarem begeistern mich“, so die 1978 in Kiew geboren und dort arbeitende Künstlerin.

Ganz anders Liudmila Rashtanova, deren Frauenportraits Nostalgie alter Postkarten mit comicartigen PopArt-Elementen verbinden und von hohem ästhetischen Reiz sind. Überhaupt findet sich das Thema Mensch in jedem Pavillon verstärkt vertreten. Oft auch in Formen, die an Illustrationen aus Sagen- und Märchenbüchern erinnern, besonders auch im Schwerpunkt „Identität - zeitgenössische Kunst aus Zentralasien“.  Seien es die usbekischen, aber auch chinesischen Jagd- und Reiterszenen vergangener Zeiten, die Bilder von Marat Beeyev (Kazakhstan), dazu die illustrativen Fotos zu Themen aus Grimms Märchen von Katerina Belkina, die arrangierten Fotografien und Fotomontagen von Ulrich Heemann oder die Arbeiten von Nina Murashkina (Das Mädchen und das Einhorn), auch Andrea Cziessos leicht morbid wirkende Traumgestalten nur einen Teil zu nennen.

Zum anderen spielen Tiere und fantastische Tiergestalten eine große Rolle, im Keller eine Invasion überlebensgroßer Ameisen, die alles überrennen werden. Aalglatte silberne Monster-„Quietsche“enten, die unangenehm an goldene Kälber erinnern, eine herrliche Insekteninstallation und einige Assamblements von asiatischen Plastikspielzeugtierchen auf reliefartigen Spiegeloberflächen bilden einen Anfang, der sich dann als Schwerpunkt unter dem Titel „Curious animals“ (was eigentlich „neugierige“ Tiere bedeutet, aber womit wohl „seltsame“ gemeint sind) in der ehemaligen Wagen-Remise im Skulpturenpark fortsetzt. Insgesamt muss der Ausstellung mindestens ein voller Tag gewidmet werden, um ihr gerecht zu werden. Um alles auch zu genießen kann man aber noch besser die lange Ausstellungsdauer nutzen, um einen zweiten Besuch einzuplanen, vielleicht sogar in Verbindung mit einem Konzert.

Es gibt wirklich Vieles und Vielfältiges zu bewundern und dieser Text kann nur an der Oberfläche kratzen und hoffentlich Appetit machen auf ein Kulturereignis von Weltrang, praktisch vor unserer Haustür.

Die Ausstellung ist bis zum 10.10.2021 zu sehen.

Andrea Claussen