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Der 2. Juni
Ein Tag, sich einmal Gedanken über die „gute alte Zeit“ zu machen
Gelegentlich gehe ich manchmal noch innerlich die Wände hoch. Das war’s. Was war früher anders, was hat sich geändert? Wir wohnten in Husums erster Wohngemeinschaft. Vier Typen, drei Frauen, die Bewohner wechselten gelegentlich. Nachts schlichen die Nachbarn ums Haus, um durch die Fenster zu spähen. Sie wollten herausfinden, was wir in dieser Kommune so treiben würden. Langhaarige Typen und ansehnliche junge Frauen. Wir haben dann einen Kalender ins Fenster gehängt, wer wann mit wem Sex hat. Prüde Zeiten eben. Natürlich wollten wir raus aus der bürgerlichen Enge dieser Zeit, steckten aber eigentlich noch immer ziemlich tief in den alten Strukturen. Pläne fürs Saubermachen, Kochen und Rasenmähen.
Gelegentlich schaute die Polizei vorbei. Die „wüssten genau“, wer wir waren, und wir sollten froh sein, in einem Land wie diesem leben zu dürfen, oder doch einfach nach „Drüben“ verschwinden. Das war Anfang der siebziger Jahre. Wir waren ein Teil der Protestszene der damaligen Zeit. Allerdings auch in der Provinz, politisch passierte hier fast gar nichts. Es wurde viel diskutiert, ob ziviler Ungehorsam ausreichen würde, ob es legitim sei, sich mit Waffen gegen diesen Staat zur Wehr zu setzen. Nach meiner Meinung ist das kein gangbarer Weg gewesen. Man kannte den einen oder anderen, der mit der RAF (Rote Armee Fraktion) sympathisierte, sich aber abwandte, als der „bewaffnete Kampf“ der RAF begann.
So kam es auch vor, dass man bei einer Polizeikontrolle unvermittelt in den Lauf einer Maschinenpistole blickte. Angeblich war in einer Nebenstraße ein Zigarettenautomat geknackt worden. Fluchtmöglichkeiten hätten wir keine gehabt, wie man uns versicherte, alle Nebenstraßen seien abgesperrt worden. Die Kühlerhaube des Polizeifahrzeugs wies riesige zugespachtelte Löcher auf, dort war eine Salve eines Maschinengewehrs drüber gegangen.
Hannes Wader hatte es zu dieser Zeit nach Nordfriesland verschlagen, er schaute gelegentlich vorbei. Manchmal hockten wir im Nordseehotel und diskutierten seine alten und neuen Lieder. Der anfangs eigentlich unpolitische Wader hatte zu der Zeit begonnen, politische Liedtexte zu verfassen.
Vieles war im Umbruch. Seit Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin erschossen worden war, entwickelte sich die Studentenbewegung an den westdeutschen Universitäten. Hinzu kam die Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968, die von den West-Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg gefordert worden waren. Begleitet wurde die Gesetzgebung von Protesten der APO (Außerparlamentarischen Opposition). Es war nur eine Frage der Zeit, wann die gefühlte Ohnmacht gegenüber den Staatsorganen zu größeren Protesten führen würde. Am 11. Mai 1968 beteiligten sich Zehntausende an einem Sternmarsch nach Bonn. Es war auch die Zeit der Proteste gegen den Vietnamkrieg. In Berlin fand 1967 ein Vietnamkongress statt, initiiert vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund, geleitet von Rudi Dutschke. Dem schloss sich die bis dahin größte Demonstration gegen den Vietnamkrieg an.
Die Wurzeln des Terrorismus in Deutschland sind eng mit dem Datum des 2. Juni verknüpft. Die „Bewegung 2. Juni“ entstand im Januar 1972: „Alle wussten, was der 2. Juni bedeutet. [...] Mit diesem Datum im Namen wird immer darauf hingewiesen, dass sie zuerst geschossen haben!“, so Mitbegründer Ralf Reinders. „Die eigentliche Politisierung kam erst mit der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967. Nach all den Prügeln und Schlägen hatten wir das Gefühl, dass die Bullen auf uns alle geschossen haben. Gegen Prügel konntest du dich ja ein Stück weit wehren. Dass aber einfach jemand abgeknallt wird, ging ein Stück weiter.“ Die Radikalisierung hatte begonnen.
Es folgten die Proteste gegen den Bau von Atomkraftwerken in Deutschland. Die erste große Demonstration war die Besetzung des Baugeländes im südbadischen Wyhl, mit 28.000 Demonstranten. Die größte dürfte in Brokdorf am 28.02.1981 mit über 100.000 Teilnehmern gewesen sein. 10.000 Polizisten mit Hunden und Hubschraubern, aus denen Tränengas versprüht wurde, standen ihnen gegenüber. Auf dem Rückweg von der Demo, hunderte Meter entfernt, machten sich die Hubschrauberbesatzungen einen Spaß daraus, dicht über unsere Köpfe hinwegzuknattern.
In den achtziger Jahren richtete der Protest sich gegen den Nato-Doppelbeschluss. Die Amerikaner hätten Russland - mit der Stationierung ihrer Pershing II Raketen und den Cruise Missiles - ohne Vorwarnzeit angreifen können. Die USA hätten einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion ausschließlich in Europa führen können. Es soll im Pentagon sogar solche Pläne gegeben haben. Bei einer Greenpeace-Demonstration vor dem Brüsseler Nato-Hauptquartier, wurden wir mit verdrehten Armen und leichten Blessuren in das Brüsseler Gefängnis verfrachtet. Von dort begleitete man uns unter „Polizeischutz“ aus dem Land.
Danach wurde es ruhiger. Heute stehen manchmal kleine Gruppen auf Marktplätzen und halten noch die Anti-AKW Fahne hoch. Tschernobyl und Fukushima brachten nochmals etwas Bewegung in die Sache.
Und heute? Von deutschem Boden (Ramstein) werden in Afrika Menschen, weil sie terrorverdächtig sind, ohne Gerichtsurteil mit US-Drohnen umgebracht. Unsere Bundesregierung will von davon nichts gewusst haben.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass Politik kein Thema mehr für junge Leute ist. Unruhen sind von den gesellschaftlich Abgehängten zu erwarten. Fremdenhass und Frust nehmen zu. Autos brennen.
Gelegentlich gehe ich manchmal noch innerlich die Wände hoch.
Ach ja, heute ist auch Welthurentag, aber das ist ein anderes Thema.
Wolfgang Claussen