Brauchen wir die Kunst?

Was vor über 40.000 Jahren begann

Balance von Ro Breitbach„Ich habe mit Kunst nichts am Hut!", ein Satz, der mir in letzter Zeit einige Male untergekommen ist. Kann es sein, dass es Menschen gibt, die von Kunst nicht betroffen sind, auf deren Leben die Kunst keinen Einfluss hat?

Kunst kann unterschiedlich sein: schön, hässlich oder auch ekelhaft und wir begegnen ihr überall. Kunst kann uns anziehen, abstoßen oder langweilen, sie kann uns verwirren oder neue Perspektiven aufzeigen, völlig neue Sichtweisen erzwingen und noch nie Gesehenes präsentieren und sie kann unverstanden sein oder missverstanden werden. Kunst kann bestehen oder vergänglich sein. Mal ist sie harmonisch, dann ist sie spannungsreich, eigentlich immer auch Handwerk. Sie ist erforscht, es gibt den „goldenen Schnitt", der dem Auge des Betrachters gefällig ist, und es gibt eine Farbenlehre. Ein Affe pinselt eine Leinwand voll und der geneigte Betrachter empfindet es als Kunst.

Und natürlich gibt es auch den Kunstbetrieb, die obersten Walter der Kunst, und Zuschauer, die Probleme mit des Kaisers neuen Kleidern haben. Irrwitzige Summen werden für Exponate ausgegeben. Weggewischte Fettflecken im Museum werden zum Skandal. Da fühlt sich der Otto-Normal-Betrachter ausgeschlossen. Wie auch manch exzentrischer Künstler dazu beiträgt. Schlimmer noch manche Redner bei Ausstellungseröffnungen, die mit Fremdwörtern gespickten, selbstverliebten Stuss reden. Ein wirklich „großer Künstler" wird nur, wer Eingang in die verwaltenden Eliten der Kunstszene findet. Es ist ein Betrieb, in dem viel Geld verdient werden kann. Das alles tut aber der Kunst keinen Abbruch, es sind die Auswüchse, was die Hüter allerdings nicht so sehen.

Kunst ist inzwischen für alle zugänglich und erfahrbar. Sie befindet sich im öffentlichen Raum, in jedem Haus und jeder Wohnung. Aus unterschiedlichen Motiven, mal, weil sie gefällt oder weil der Besitzer damit beeindrucken will. Da wird die Kunst benutzt, um sich selbst in ein besseres Licht zu stellen, Status zu demonstrieren, ähnlich wie bei meterweise gekauften Bücherwänden. Anteil am Leben hat die Kunst damit überall. Sie betrifft uns, wir können uns ihr nicht entziehen. Das heißt ja nicht, dass sie uns immer gefallen muss.

Kunst ist ein Teil jeder Kultur. Sie beeinflusst die Menschen, sie stört Machthaber, die sie dann verbieten, aus politischen oder moralischen Gründen. Ein nackter Frauenkörper darf nicht in allen Kulturen gezeigt werden. In Schweden fallen nackte Mangas mit ihren kindlichen Zügen nicht unter Kinderpornographie sondern unter Phantasiedarstellungen, hat kürzlich das oberste Gericht Schwedens entschieden. Zwar seien die Inhalte pornographisch, aber die Figuren könnten nicht mit richtigen Kindern verwechselt werden.

Im Gegensatz zur Kunst als „Liebe, die sich von der Begierde unterscheide", wie es der irische Schriftsteller und Staatsphilosoph Edmund Burke (1729-1797) schreibt, gibt es das „Reizende", die Begierde weckende Kunst. Insbesondere bei den niederländischen Malern mit der Darstellung lukullischer Genüsse und nackter Frauenkörper in lasziven Posen oder Orgien feiernd.

Die Ersten waren wahrscheinlich die Neandertaler, die Wände bemalten, dabei den Felsuntergrund in ihre Bilder einbezogen und damit im flackernden Licht den dargestellten Tieren Lebendigkeit verliehen. Meist waren es Mammuts, Steinböcke, Hirsche oder Pferde. Bären, Löwen und Nashörner sind in nur wenigen Höhlen zu finden.  Dabei war es nicht das Ziel dieser Künstler, ein individuelles Tier darzustellen. Trotz großen Detailreichtums sind besondere Haltungen, Verhalten oder Geschlecht meist nicht ablesbar. Vielmehr steht das allgemeine Erscheinungsbild im Vordergrund und damit wird es zur Kunst.

Kunst ist in all ihren Spielarten wichtig, egal ob bildende Kunst, Literatur, Musik oder darstellende Kunst. Denker und Philosophen haben sich mit dem, was Kunst sein könnte oder sollte, beschäftigt.

„Gute Kunst" ergibt sich durch die Wirkung auf den Betrachter (Aristoteles). Platon und die Philosophen der Antike sehen in der Kunst die Nachahmung der Natur oder der Wirklichkeit. Kant lässt in seiner „Kritik der Urteilskraft" das Nachahmungsprinzip als Kunstpraxis nicht mehr gelten. Für ihn ist es das „Naturschöne", das Genie, welches von der Natur gegeben, die Regeln der Kunst festlegt. Das Genie ist ein Naturwesen, das in der Gesellschaft lebt. Kunst ist es, wenn es wie Natur scheint. Also sehr gegenständlich. Kant prägte aber auch das „uninteressierte Wohlgefallen", das vom Wunsch, den schönen Gegenstand besitzen zu wollen, unabhängig ist. Für Schopenhauer ist es die kontemplative Betrachtung. Zum Beispiel, die Farben von ihrer Gegenständlichkeit zu lösen, sich in die Betrachtung des Gegenstandes zu versenken, ohne weiteren Grund oder andere Absicht als die Versenkung. Losgelöst vom eigenen Willen oder Wollen, nur den eigenen Gefühlen lauschend.

Die Kunst hat sich verändert, hinzugekommen zum Gegenständlichen, den Statuen der Antike, dem Realistischen und Illusionistischen sind im Bereich Grafik die Karikatur, Comic, Collage und das Impressionistische, das Abstrakte, politische Propaganda vom Wahlplakat bis zur Staatskunst nach Rezept, die Medien mit Fotografie und Film, die Werbung, Installationen und Performances, nicht zuletzt Graffiti und urban knitting, um nur einige zu nennen. Auf den ersten Blick zufällig hingeklatschte Farbflecken und wilde Pinselstriche, die sich dem inneren Auge oft erst auf den zweiten Blick erschließen. Kunst in ihrer ganzen Vielfalt. Es bleibt jedem überlassen, was er mag oder eben nicht.

„Mit Kunst hab ich nichts am Hut!", dieser Satz ist einfach zu kurz gegriffen. Ohne Kunst wäre unser aller Leben ärmer.

Wolfgang Claussen