Foto © Adrian Brophy

Kurz vor BREXIT

Oder: Wie sich das Chaos anfühlt, wenn man mitten drin steckt.

Vor etwas über einem Jahr beschloss ich nach acht Jahren in Norwegen, nach Schottland zu ziehen. Von vielen Leuten wurde ich gefragt, ob das so schlau sei - so kurz vor dem BREXIT.

Alles, was ich wusste, war, dass ich, sollte ich nicht bleiben dürfen, wenigstens ein paar Monate in meiner neuen Wahlheimat verbringen können würde - also musste ich VOR dem BREXIT “rüber”.

Foto © Adrian BrophyGesagt - getan. Seit Juli 2018 lebe und arbeite ich in Schottland.
Vom Ausstieg aus der EU war ehrlich gesagt bis Ende Dezember nicht viel zu spüren, es sei denn, man brachte das Thema auf den Tisch.
Alle Schotten, die ich getroffen habe, sind ausdrücklich gegen den BREXIT und sind fassungslos über so viel Blindheit und so wenig rationales Denkvermögen der ‘Leaver’.

In den letzten Wochen allerdings wurde immer deutlicher, wie chaotisch die ganze Situation ist. Die Regierung hatte die Bevölkerung vor drei Jahren über etwas abstimmen lassen, für das es überhaupt keinen Plan gab und das auf Lügen und falschen Versprechungen aufgebaut war.
Versprechungen wie das, dass jeder Bürger jährlich einen beträchtlichen Betrag zusätzlichen Geldes erhalten würde, weil die Beitragszahlungen nach Brüssel wegfielen. Dass man die Produktionsfirmen von einer Abwanderung in osteuropäische Länder abhalten könne, wenn man das Bündnis verließe. Dass man den Einwanderungsstrom von Asylbewerbern auf diese Weise stoppen könne.

Foto © Adrian BrophyIm Laufe der letzten drei Jahre allerdings ist als Reaktion auf den BREXIT das Pfund Sterling im Wert inflationell gesunken, Wales verliert eine jährliche millionenschwere Unterstützung zum Erhalt der walisischen Kultur, die Arbeitslosenzahlen steigen und wichtige Firmen und Arbeitgeber fliehen regelrecht ins europäische Ausland.

Und viel schlimmer noch: Einen Plan, wie es nach dem BREXIT weiter gehen soll, gibt es noch immer nicht - geschweige denn, einen davon, wie der BREXIT eigentlich genau aussehen soll.

Der Plan, die EU zu schröpfen, bevor man mit Pauken und Trompeten die Tür hinter sich zuknallt, ist ja schon 2016 im Keim erstickt worden. Seitdem ist ehrlich gesagt nicht viel passiert, was Planung angeht.
Im Parlament wird viel Wind um nichts gemacht, es werden “Deals” entworfen, die die EU ablehnt, dann werden “Deals” entworfen, die das Parlament ablehnt. Dann werden die Mitglieder des Parlaments zu einer zweiten Abstimmung über denselben Deal gebeten - mit dem gleichen Ergebnis. Also wird eine dritte Abstimmung anberaumt, die kurzerhand vom Speaker gestoppt wird - allerdings nur aufgeschoben, nicht aufgehoben.

Kurzum - keiner weiß, was eigentlich wirklich abgeht.

Foto © Adrian BrophyAuf Facebook kursieren sarkastische Memes und der Unmut wird immer lauter. Die ersten signifikanten “I voted leave, now I want to remain” (Ich habe für den BREXIT gestimmt, jetzt bin ich dagegen) Stimmen werden laut.
Am Mittwoch, dem 20. März 2019, verkündet Premierministerin Theresa May, dass sie “den Willen des Volkes” vertrete.
Das bewirkt, dass das bis jetzt nur leise zähneknirschende Volk wütend wird. Wie ein Aufschrei geht eine Welle der Empörung durch das Land. “Enough is enough”, hört man überall.
Und abends dann die Petition von Margaret Anne Georgiadou, die das Land zur Zeit in Atem hält.
Eine Petition auf der Webseite des Parlaments.

Revoke Article 50 and remain in the EU.
The government repeatedly claims exiting the EU is ‘the will of the people’. We need to put a stop to this claim by proving the strength of public support now, for remaining in the EU. A People’s Vote may not happen - so vote now.

Zu deutsch:
Artikel 50 (Brexit) widerrufen und in der EU bleiben.

Die Regierung hat zum wiederholten Male behauptet, die EU zu verlassen sei ‘der Wille des Volkes’. Wir müssen diese Behauptung stoppen, indem wir die Stärke der öffentlichen Unterstützung für ein Verbleiben in der EU beweisen. Eine Volksabstimmung wird vielleicht nicht stattfinden - also wählen Sie jetzt.

(Die Petition finden Sie hier: https://petition.parliament.uk/petitions/241584)

Die Petition für eine Widerrufung des Artikel 50 ist seit Mittwoch über fünf Millionen mal unterschrieben worden - und die Zahlen wachsen in Tausenderschritten - im Minutentakt.

Zusätzlich wurde Samstag - endlich! - zu einer Demonstration in London aufgerufen.

Foto © Adrian BrophyDer ‘People’s Vote March’ sollte die größte Demonstration werden, die London je gesehen hat: Über eine Million Menschen war auf der Straße. Es gab keine nennenswerten Zwischenfälle.
Sonntag werden die Stimmen der ‘Leave’-Fraktion laut:
Alle Züge und Busse, die Demonstranten nach London gebracht hätten, seien von George Soros gesponsert gewesen, heißt es. Die ‘Remainers’ wären nur in ihrer Ehre verletzt und seien schlechte Verlierer …

Hass macht sich breit. Die ersten Remainer bezweifeln, dass sich der Kampf lohnt, wenn er doch so viel Zwist sät.
Tatsächlich fürchten einige ernsthafte Aufstände und sogar bürgerkriegsähnliche Zustände.

Jedoch - wenn man sich die ‘Leaver’- Seite ansieht, so hat auch dort am Samstag eine Demonstration stattgefunden: der ‘March to Leave’ fand in Sunderland unter der Leitung von Nigel Farage statt und zählte etwa einhundert Demonstranten.

Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.

Ich bin kurz davor, meine dritte Arbeitsstelle anzutreten - am ersten April. Das ist in einer Woche. BREXIT ist für kommenden Freitag angesetzt. Das Eisen ist heißer als je zuvor.

Wenn es nicht so tragisch wäre, würde ich sagen, es handelt sich um exzellenten Stoff für eine typisch britische schwarze Komödie.

Und doch: Eine Petition wie diese und eine Demonstration wie die gestrige lassen hoffen.

Die Schilder und Gesichter der Demonstration auf den Bildern von © Adrian Brophy sprechen Bände. Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen.

Sophie Claussen