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„Wir sind das Volk“
Wir lassen uns nicht länger belügen. Dieser Satz setzt voraus, dass wir jetzt die Wahrheit kennen, sonst hätten wir die Lügen ja nicht aufdecken können. Das Problem dabei ist, wer erzählt uns eigentlich diese Wahrheit?
Politiker, klug wie sie nun einmal sind, haben herausgefunden, dass sie alles richtig gemacht haben, es wurde uns nur nicht richtig erklärt, sie haben es nicht richtig rüberbringen können. Das ist also deren Wahrheit.
Dann gibt es die Anderen, die herausgefunden haben wollen, dass die Wahrheit der Politiker gar nicht die Wahrheit ist, und verkünden dies jetzt lautstark auf der Straße. Das machen sie aber nicht mit Fakten, sondern mit Parolen und einfachen Antworten auf komplexe Sachverhalte. Merkel muss weg, dann kommen auch keine Flüchtlinge mehr und die Amerikaner können ihre Chlorhühnchen behalten.
Und dann sind da noch die Journalisten, die dem Volk erklären sollen, was das Volk ohne sie nicht verstehen kann. Nehmen wir z. B. das Essay von Karl-Heinz Büschemann in der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung. Ein Essay ist übrigens eine Abhandlung, die eine literarische oder wissenschaftliche Frage in knapper und anspruchsvoller Form behandelt. Aha, also nicht irgendein lausiger Kommentar, sondern etwas Anspruchsvolles. Büschemann kritisiert, dass vor einem internationalen Schiedsgericht die Klage des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland verhandelt worden wäre und im Internet mitverfolgt werden konnte. „Graue Juristen und Ingenieure waren zu sehen, die um eine ovalen Konferenztisch saßen und sich monoton auf Fachchinesisch gegenseitig TÜV-Berichte und juristische Gutachten vorlasen“, so Büschemann. Für ihn sei es eine Qual gewesen. Sein einziges Fazit: Otto-Normalbürger hätte nur verstanden, dass die Teilnehmer darum gebeten hätten, die Klimaanlage wärmer zu stellen. Dass die TTIP-Verhandler die ordentliche Justiz aushebeln und nur mit eigenen Schiedsgerichten urteilen wollen, erwähnt er nicht. Dass die Öffentlichkeit bei einem Vertragswerk, das unsere Gesetze, den Verbraucher- und Gesundheitsschutz derart beschneiden kann, bis zur Unterzeichnung völlig im Dunkeln gelassen werden sollte, hält Büschemann auch nicht für erwähnenswert. Was bleibt, ist, es hat ihn nicht interessiert oder er hat es nicht verstanden. Nicht schlimm eigentlich, hat er doch Kollegen, die sich mit solcher Materie auskennen. Eigentlich, aber darum geht es ihm nicht. Er nimmt die Vattenfallverhandlung als Beispiel, dass der Otto-Normalbürger es ohnehin nicht verstehe, folglich könnten derartige Verhandlungen dann ebenso gut im Geheimen bleiben. Die Forderung nach mehr Transparenz, hat nichts mit Verschwörungstheorien gegen den Vatikan oder die Freimaurer zu tun.
In seinem Artikel behauptet er, Transparenz würde den Kern der Demokratie bedrohen, reißerisch in der Überschrift: Die totale Transparenz. Hört sich nach altbekanntem Kriegsgeheul an. Der Kern ist das Vertrauen. Dann zitiert er noch einen koreanischen Philosophen (Nord oder Süd?), der in das gleiche Horn stößt. Dagegen lässt er einen ungenannten „Amateurphilosophen“ sagen: „Geheime Verträge sollten grundsätzlich verboten werden“. Wenn aber der Bürger nicht nachvollziehen könne, was drin stehe, so die Folgerung, „sei die gesamte Demokratie ad absurdum geführt". Für Büschemann ein sich irrender Wutbürger, Transparenz könne das gefährliche Ende der offenen Gesellschaft sein.
So viel Schwarz-Weiß-Malerei ist kaum auszuhalten. Bei TTIP und CETA hat niemand die „totale“ Transparenz gefordert, niemand hat gefordert, dass die Verhandlungen im Internet übertragen werden, so wenig wie Kabinettstreffen oder Ministertreffen im Bundeskanzleramt. Eine derartige Behauptung ist unredlich. Demokratie lebt sicher vom Vertrauen, dass die von uns gewählten Politiker in unserem Sinne handeln. Aber, wenn sie die Bodenhaftung verlieren und in ein eigenes Universum abdriften, dann ist die Forderung nach mehr Transparenz ganz sicher sinnvoll. Insbesondere dann, wenn es um die Milliarden von Großkonzernen geht, an denen der Otto-Normalverbraucher sicher nicht beteiligt wird, deren Auswirkungen ihn aber massiv treffen können. Eine Forderung nach mehr Transparenz ist sicher nicht mit „totaler“ Transparenz gleichzusetzen. Das ist die gleiche Art der Polemik, die sich auch die „Wutbürger“ zu eigen gemacht haben. Es geht eben nicht darum, dass das die Wir-sind-das-Volk-Protangonisten per Volksentscheid derartige Verhandlungen begleiten sollen. Es geht um öffentliche Kontrolle bei derart weitreichenden Abmachungen, die, wenn sie erst einmal durchgesetzt sind, nur schwerlich rückgängig gemacht werden können. Altkanzler Schmidt soll einst formuliert haben: „Die Dummheit von Regierungen sollte niemals unterschätzt werden.“
Und das ist jetzt das Dilemma, eine Regierung wird sich nicht selbst als dumm erkennen.
Den rechten Straßenmarschierern ist die Wahrheit egal, sie verfolgen andere Ziele. Und wenn sich Journalisten dem Mainstream der Mächtigen unterwerfen, dann sehe ich allerdings auch schwarz für die Demokratie.
„Die Klimaanlage in Washington steht stellvertretend für den Informationsmüll, der den Blick auf das Wesentliche verstellt“, so Büschemanns Schlusssatz. Was ihm dabei vielleicht entgangen ist, diese Klimaanlage ist sein eigenes Argument zum Verständnis der Verhandlungen, niemand sonst ist auf diesen Unsinn gekommen.
Dummheit ist wie tot sein, man erkennt es nicht selbst, für die Anderen ist es schmerzhaft.
Wolfgang Claussen