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Politiker sind Mörder - darf man das behaupten?
Das Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ hat in den 1990er Jahren die Gerichte beschäftigt. Ein Sozialpädagoge und anerkannter Kriegsverweigerer hatte 1991, während des Golfkrieges, einen Aufkleber auf seinem Auto angebracht, auf dem stand: „Soldaten sind Mörder“.
Von einem Amtsgericht wurde er daraufhin wegen Volksverhetzung, von einem Landgericht zusätzlich wegen Beleidigung eines als Nebenkläger auftretenden Bundeswehrsoldaten verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Urteile 1995 aufgehoben: Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gewährleistet jedermann das Recht, seine Meinung frei zu äußern: Jeder soll sagen können, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angibt oder angeben kann. ... Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG schützt die Meinungsfreiheit.
Im Wesentlichen unterscheidet das Bundesverfassungsgericht zwischen überschaubaren und damit beleidigungsfähigen Gruppen, das träfe dann auf z.B. „alle Bundeswehrsoldaten“ zu. In der Verlautbarung der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichtes Nr. 46/1995 heißt es:
Das Bundesverfassungsgericht ist dem Bundesgerichtshof, auf den sich die angegriffenen Entscheidungen berufen haben, allerdings darin gefolgt, dass auch in Äußerungen über ein Kollektiv unter Umständen ein Angriff auf die persönliche Ehre seiner Mitglieder liegen kann. Es hat zugleich hervorgehoben, dass der Bundesgerichtshof im Interesse einer rechtsstaatlichen Eingrenzung der Strafnormen eine persönliche Kränkung dann nicht mehr für gegeben hält, wenn es sich um sehr große, im einzelnen unüberschaubare Kollektive (alle Katholiken, alle Frauen, alle Gewerkschaftler) handelt, weil sich die Kränkung hier sozusagen in der unübersehbaren Menge verliert und auf den einzelnen Gruppenangehörigen nicht mehr durchschlägt. Das Bundesverfassungsgericht hat ferner die Auffassung der Strafgerichte gebilligt, dass die (aktiven) Soldaten der Bundeswehr eine hinreichend überschaubare Gruppe bilden. Der Äußerung muss dann allerdings zu entnehmen sein, dass sie sich gerade auf die Soldaten der Bundeswehr und nicht etwa auf alle Soldaten der Welt bezieht.*
Der Amtseid, den alle deutschen Bundeskanzler und Bundesminister schwören, lautet:
„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“
Und damit zurück zu der Frage, ob Politiker Mörder genannt werden dürfen. Neue Studien haben ergeben, dass weltweit jährlich neun Millionen Menschen an den Folgen der Umweltbelastung sterben, in Deutschland geht man von 62.000 Toten aus. Luft, Wasser und Böden sind belastet. Industrialisierung und Globalisierung sind von den Politikern gewollt, siehe TTIP oder CETA. Sind sie damit nicht auch für die Folgen verantwortlich? In China verschwinden Großstädte unter Schwaden von Dreck, Amerika verabschiedet sich beim Klimaabkommen und in Deutschland werden in vielen Städten regelmäßig die Grenzwerte für die Luftreinhaltung überschritten, Nitrate sind im Grundwasser angekommen.
Selbst nach Erkenntnissen des Umweltbundesamtes gibt es durch Feinstaub jährlich 47.000 vorzeitige Todesfälle in Deutschland. Menschen werden krank und sterben. Wie verträgt sich das mit dem Amtseid? Ist das nicht zumindest Körperverletzung oder Töten durch Unterlassung? Die Politiker können ja nicht behaupten, sie hätten es nicht gewusst, wenn sogar die Ministerien diese Zahlen veröffentlichen.
Das Bundesverfassungsgericht hat seinerzeit die Bundeswehrsoldaten unter besonderen Schutz gestellt. Durch die Wehrpflicht sind die Soldaten zum Dienst mit der Waffe verpflichtet worden.
Eine Rechtsordnung, die junge Männer zum Waffendienst verpflichtet und von ihnen Gehorsam verlangt, müsse denjenigen, die diesen Pflichten genügen, Schutz gewähren, wenn sie wegen dieses Soldatendienstes geschmäht oder öffentlich als Mörder bezeichnet werden.*
Politiker haben ihre Posten sogar freiwillig übernommen. Kann man im Sinne des „Tucholsky-Urteils“ also behaupten: Politiker sind Mörder?
In der Alltagssprache ist ein unspezifischer Gebrauch der Begriffe „Morde“ und „Mörder“, der nicht auf juristische Abgrenzungen abstellt, durchaus üblich. Danach kann unter „Mord“ jede Tötung eines Menschen verstanden werden, die als ungerechtfertigt beurteilt und deshalb missbilligt wird.*1
Wenn die Äußerung in diesem umgangssprachlichen Sinn gedeutet wird, die keine Gleichsetzung mit Straftätern beinhaltet, die sich einer vorsätzlichen Tötung unter Verwirklichung eines der Mordmerkmale des § 211 StGB schuldig gemacht haben, sondern ausdrückt, dass hier Menschen zu Tode kommen, was nicht als rechtfertigungsfähig empfunden wird, ist sie dann gerechtfertigt? Wie soll man Menschen bezeichnen, die zulassen, dass unsere Lebensgrundlagen zerstört werden, zulassen, dass Menschen erkranken und sterben? Zulassen, dass Großkonzerne die ganze Welt an den Rand des Abgrunds gedrängt haben. Das machen Konzerne außerdem nicht, um Arbeitsplätze zu sichern, hier geht es nur um Profite. Die Ziele sind eindeutig definiert. Ist es hinnehmbar, dass Menschen diesen Profiten geopfert werden? Das zu unterstützen, kann und darf nicht Aufgabe von Politikern sein. Zumindest meineidig werden deutsche Politiker damit. 60.000 Tote sind kein Versehen, keine Unfälle, keine Bagatell- oder Kollateralschäden.
Politiker sind Mörder oder Verbrecher, ich denke, bei jährlich neun Millionen Toten müsste man das so sagen können, zumindest, wenn man der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts folgt. Was es aber auf jeden Fall ist, es ist eine unfassbare Schande, dass es Tote gibt, die aus niederen Beweggründen umgekommen sind, der Macht- und Profitgier einiger weniger geopfert.
Wolfgang Claussen
* https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/1995/bvg95-046.html
*1 http://www.kurt-tucholsky.info/urteil-des-bundesverfassungsgerichts-zum-soldaten-sind-moerder-zitat