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Besinnliches zum Jahresausklang
Früher gab es mal die Rasterfahndung, was haben wir uns darüber aufgeregt. Volkszählungen die zu sehr in die Privatsphäre drangen, haben heftige Proteste ausgelöst. Die Rasterfahndung war Spielkram gegen die Möglichkeiten, die inzwischen technisch möglich sind - und genutzt werden.
Heute haben wir nichts mehr zu verbergen. Über 70 Jahre haben wir keinen Krieg mehr auf deutschem Boden gehabt, von deutschem Boden allerdings schon, aber da wollen wir jetzt mal nicht pingelig werden. Wir leben im Schlaraffenland und das steht uns auch zu, da sind wir uns ganz sicher. Vergessen all die Gräuel, die auch hier passiert sind, an denen noch viele unserer Väter oder Großväter beteiligt waren. Vergessen die Zerstörung und die Not, die danach geherrscht haben. Gut, wozu sollte man sich auch täglich mit diesem ganzen Elend beschäftigen. Dass dieses Elend weltweit noch weltweit präsent ist, kann man uns doch nun wirklich nicht anlasten. Wir hocken doch nur friedlich vor der Glotze oder entdecken den Rest der Welt im Universum des Internets und unseres Smartphones. Und dass dieses Universums der Wunschtraum eines jeden diktatorischen Systems ist? Gut, an die DDR erinnern wir uns noch so eben. Dort hat jeder jeden bespitzelt, aber da war nun wirklich nicht alles schlecht. Ach ja, manchmal gab es Bananen und rote Farbe für den Gartenzaun. Aber es war doch eine Herzenswärme unter den Menschen. Ich glaube, das nennt man Stockholm-Syndrom. Oder es ist dieses wohlige Gefühl, irgendwo gemeinsam im Stau zu stehen.
Die Welt um uns herum verändert sich, nationalistische Tendenzen verstärken sich. Nicht nur in der Türkei, Ungarn, Polen oder in Österreich, auch bei uns. Aber das kann doch unserem Schlaraffenland nichts anhaben, unserer wunderschönen Welt, mit rosa Einhörnern und Helene Fischer. Andererseits, wieso kann uns das alles nichts anhaben? Hass, Neid, Dummheit und Gier nehmen in erschreckender Weise zu. Und Menschen, die hassen, könnten doch auch wieder Kriege hinnehmen. Sie wissen ja nicht, wie das ist. Sie kennen nur die chirurgische Kriegsführung, den sauberen Krieg, den die Medien uns präsentieren. Das heißt, uns, die wir glauben, dass wir den Krieg im Wohnzimmer auf der Mattscheibe verfolgen können, gemütlich mit Popcorn und Cola light. Die Zerstörung, der Hunger und das ganze menschliche Elend sind weit genug weg. Nur die Flüchtlinge nerven etwas.
Nur, wozu dann die totale Überwachung? Google-Handys erstellen Bewegungsprofile. Die sind unglaublich exakt. Wann ist man aufgestanden, wie lange dauerte der Besuch im Bad und wie lange das Frühstück? Das System erkennt, ob man am Fleischstand oder am Gemüsestand nebenan eingekauft hat. Wenn der Allgemeinarzt in der zweiten Etage ist und der Proktologe in der dritten, erkennt das System auch das. Eine Timeline mit allen relevanten Bewegungsdaten. Die Rohdaten kann man in seinem Googleprofil anschauen, von der Auswertung erfährt man nichts. Selbst wenn man die Simkarte entfernt und das Gerät ausschaltet, arbeitet das System weiter. Dazu die Gesichtserkennung, bei der wir dem System freiwillig helfen, immer besser zu werden. Oder unfreiwillig im öffentlichen Raum, dort aber selbstverständlich nur zu unserem Schutz. Fingerabdruckscanner im Smartphone und das Smart Home. Fernseher, die lauschen können, Computer, die hören und sehen, Kühlschränke, die unsere Ernährungsgewohnheiten speichern. Dazu Amazons Alexa, die uns im Schlafzimmer belauscht. Der Schutz der Privatsphäre, den unser Grundgesetz garantiert, wird von uns selbst freiwillig ausgehebelt. Total, komplett, völlig unkritisch. Und sollte das Bargeld auch noch abgeschafft werden, dann ist endlich der Punkt erreicht, an dem von uns nichts mehr verborgen bleibt. Warum passiert das alles? Nur zu unserem Schutz, unserer Sicherheit! Irgendwelche Diktaturen oder die Türken würden so etwas vielleicht gegen das eigene Volk einsetzen. Aber die Deutschen? Undenkbar, niemals. Wir sind eine Demokratie, ein wehrhafte dazu.
Ein kleiner Wermutstropfen, die Regierungen von Polen, der Türkei oder Ungarn, die die Pressefreiheit und die Justiz beschneiden, sind auch demokratisch gewählt worden. Und eine Bemerkung zum Schluss, die UN und Amnesty bescheinigen der deutschen Regierung auch wiederholt Menschenrechtsverletzungen. Was soll’s, dann ist die Erde eben wieder eine Scheibe.
Wolfgang Claussen