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„Philemons Aufzeichnungen“ von Alexander Bertsch
Aus seinem neuen gleichnamigen Band mit sechs Erzählungen las der schwäbische Autor Alexander Bertsch aus „Philemons Aufzeichnungen“ im Rahmen der Literaturreihe im Schloss vor Husum.
Veranstalter war der Euterpe Literaturkreis. Therese Chromik moderierte.
Dazu bediente sich Bertsch eines der uralten Motive der Weltliteratur, der Geschichte von Philemon und Baucis, die von Aussagekern und Struktur her seinem Text die Basis gibt.
Grundmuster menschlichen Fühlens, Strebens und Handelns finden sich in den uralten Mythologien, in der Bibel und immer wieder in den verschiedenen Epochen der Weltliteratur, wo sie den sozialen Gegebenheiten angepasst verarbeitet werden. Recht und Unrecht, Rechtschaffenheit und Zivilcourage, alles überwindende Liebe, rasende Eifersucht und Neid, Vergebung und Aufopferung für andere, Segen und Fluch von Schönheit und Reichtum, Drang nach Erkenntnis, Rache und Vergebung sind einige.
Die Collage ist zurzeit wieder sehr im Kommen, seien es Bildzitate aus der Kunstgeschichte oder die Verarbeitung bereits existierender Texte. So wird durch das Element des ritualisierten „Vorlesens“, welches einen Grundbestandteil des Ehelebens der beiden Protagonisten der Erzählung ausmacht, ein Schatzkästchen geöffnet, das zehn Lyrik-und Prosatexte in unterschiedlich langen Zitaten enthält. Diese verstärken hauptsächlich die Atmosphäre und Bedeutung des Gartens.
Es geht um die Ehe zwischen Philemon Gyrien und Bea, die durch ihre große Bücherliebe zusammengeführt wurden. Ihr bescheidenes, aber trotz Kinderlosigkeit von Zufriedenheit und Harmonie geprägtes Leben findet seine Erfüllung, als sie ein Häuschen, das Bea zur Hälfte von einer alten Tante erbt, beziehen dürfen, weil ihr Bruder kein Interesse daran hat. Dieses schlichte Heim füllen sie im Laufe ihres Lebens mit Büchern, die Philemon zuletzt in eigens dafür angelegten Stollen unterbringen muss. Hier erhält die Geschichte einen unrealistischen Touch, der schon einen Hinweis darauf geben soll, dass die beiden nicht mit gewöhnlichem Maß zu messen sind.
So scheinen sie in ihrer selbst gewählten Abgeschiedenheit und Bedürfnislosigkeit, im Fernsehen schauen sie höchstens Naturfilme und Reiseberichte, ebenso wenig von ihrem sozialen Umfeld mitzubekommen wie dieses von ihnen. Freunde tauchen nicht auf, Nachbarn existieren nicht, Kollegen und Beruf gehören bereits seit längerem der Vergangenheit an. Real dagegen sind der mehrere Ar große Garten mit Streuobstwiese, der in die umgebende Landschaft übergeht. Eine Idylle, in der sie all ihr Glück finden, in der sie alt werden wollen.
Dann bricht alles zusammen. In Andeutungen durch die Wiedergabe eines amtlichen Schreibens, zweier Besuche, die wie eine bittere Karikatur erscheinen, und der Andeutung weiterer ungeöffneter Briefe (Weltfremdheit und bewusste Verweigerung) bahnt sich die Katastrophe an. Der Leser erfährt durch die Erzählperspektive aus Philemons Sicht nicht mehr darüber. Das hinterlässt in gewisser Weise ein unbefriedigendes Gefühl, da so nur zwei Optionen zur Auswahl stehen: aufgeben und fortziehen oder untergehen. Beas Körper trifft diese Entscheidung schnell für sie und ermöglicht ihrer Seele die Zuflucht in eine andere Idylle, die griechische, auf die fast als déja vu in Zusammenhang mit dem Fernsehen und dann ganz am Schluss angespielt wird. Das lässt die beiden als Reinkarnation des mythischen Paares erscheinen. Philemons Aufzeichnungen, so auch der Titel, sendet dieser nicht etwa an die Nachwelt, sondern an die eigene Adresse, bevor er das Haus in einen (vorzeitlichen) Begräbnisscheiterhafen verwandelt, ehe die Bagger es einreißen können.
Sicherlich ist das Entwurzeln älterer Bewohner eine grausame Geschichte. Und sie spielt sich ja nicht nur in der krassen Form ab, die diese Erzählung veranschaulicht. Oder durch brutales Entmieten in den Innenstädten riesiger werdender Großstädte. Jeder Umzug in ein Altenheim ist im Prinzip ähnlich bitter. Wobei dieser Aspekt ja auch nur einer von mehreren ist, den der Text zu bieten hat.
Die Bedeutung des Lesens. Schön, denkt man zuerst. Und dann: Wo bleibt das eigene Erleben? Nie gereist. Wäre Griechenland eine Option gewesen? Geld könnte doch nicht ernsthaft das Problem gewesen sein. Als die beiden jung und ungebunden waren, hätten sie per Anhalter fahren, zelten und zwischendurch zur Not kleine Gelegenheitsarbeiten ausführen können. Ich höre da eine gewisse abwiegelnde Bequemlichkeit Philemons heraus. Dazu passt das Abbrechen des Studiums. Hätte er nicht in einem akademischen Beruf mehr lesen können als in der freien Zeit zwischen den Brotjobs? Bea kritisiert leise beide Umstände, wird aber von ihm übergangen, auch als sie im Garten bleiben will und er ihr das Vorleseritual quasi aufdrängt. Er liest vor, er trifft die Vorauswahl. Wenn er die Briefe nicht öffnet, tut sie es auch nicht, mahnt nur. Bleibt passiv. Beide kennen nur die passive Verweigerung der Welt, trösten sich und schwelgen in den lyrischen Träumen anderer. Ein extremes Leben, wenn man es näher betrachtet.
Es ließe sich noch Vieles sagen, aber dies sollte reichen, auf den kleinen Band aufmerksam zu machen, der noch fünf weitere Erzählungen enthält und im Hackenbergverlag erschien. (ISBN 978-3-937280-13-4)
Andrea Claussen