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Der Krieg der Sprechblasen
Es gibt einen neuen germanischen Stamm, die Apolyten. Es sind die Verfechter der reinen Lehre, die Unpolitischen. Sie sind keine Gesellschaftsverweigerer, Dinge wie Ethik, Ästhetik, Wahrheit und Moral sind wichtige Faktoren, die es in der Gesellschaft zu halten gilt, für die man sich einsetzen muss.
Die Führer der Apolyten sind die Apolytiker, sie sind das Sprachrohr, sie bereiten den Weg zur bevorstehenden Apolyse. Damit sind nicht Leute wie unsere Politiker gemeint, denen man unterstellt, dass sie nur apolitische, geldvernarrte Abzocker seien. Die sind nur die Auswüchse des Machbaren in der Politikerkaste, sie nehmen mit, was sie kriegen können. Viele andere machen das auch, oder würden es gerne machen. Sie denken in überschaubaren Zeitintervallen.
Politiker entdecken in der Opposition ihre soziale Ader, die sie nach der Wahl ganz schnell wieder vergessen. Sie würden ja gerne etwas für das Prekariat tun, aber das scheitert schon daran, dass sie kein Gefühl dafür haben, womit sie es überhaupt zu tun haben. Wer Millionen verdient, kann sich nicht vorstellen, wie es ist, mit einem Hartz IV Satz von 416 € monatlich zu überleben, oder von 800 € netto für einen Vollzeitjob. Da hilft der statistische Warenkorb, der festlegt, wie viel man zum Leben braucht. Und damit ist der Pflicht Genüge getan. Die dritte Welt wird als Beispiel herangezogen, um zu beweisen, dass hier auf einem hohen Niveau gejammert wird. Politikern ist es erlaubt, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, nur so funktioniert das ganze System. Der Krieg der Sprechblasen.
Milliarden werden sinnlos vergeudet und Zockerbanken gerettet. Prestigeprojekte wurden für 70 Millionen geplant und kosten am Schluss eben 400 Millionen. Die Elbphilharmonie kostete den Steuerzahler am Ende 789 Millionen Euro. Da bleibt dann nichts für Kultur oder Kitaplatz, wieso versteht das dumme Volk das nicht? Bei 15.000 € Honorar für einen Vortrag bei den Stadtwerken XY sind das doch nur Centbruchteile für den einzelnen Stromkunden. Worüber regt sich der deutsche Michel schon wieder auf? Der Politiker steht da und versteht sein Volk nicht. Und das Volk? Es versteht seine Politiker nicht. Zwar kann es über den inzwischen schwadenfreien Wolken der Stammtische immer noch alles besser und erkennt die wahren Zusammenhänge, die Bereitschaft, selbst aktiv zu werden, verflüchtigt sich aber nach dem Verlassen der Lokalitäten. Mitreden kann ein jeder uneingeschränkt, da das öffentlich-rechtliche Fernsehen, dem Staatsvertrag vermeintlich entsprechend, Schwatzsendungen anbietet, in denen hochkarätige Phrasendrescher ihr nebulöses Kauderwelsch von sich geben. Schon wähnt man sich im Besitz wichtiger Hintergrundinformationen. Das ist wie mit den Horoskopen, die treffen den Nagel auch immer auf den Kopf. Das kann man in Rhetorikseminaren lernen. Lange Reden ohne Aussagen. Alles wird ernst genommen und reiflich geprüft, um dann im politischen Gedankengewirr zu versickern. Und der zuschauende Michel applaudiert. Oder sind es nur des Kaisers neue Kleider?
Kommen wir zu den Apolytikern. Vielleicht könnte es ein Frank Schirrmacher sein, der schon lange den Finger in die offene Wunde des demographischen Wandels legt. Oder ein Thilo Sarrazin, der über „europabesoffene“ Politiker herfällt. Jakob Augstein, der zum Staatsfeind Israels wird, weil er dessen Politik kritisiert, von Henryk Modest Broder, dem ausgewiesenen Polemiker, zum Antisemiten gestempelt. Oder der Kolumnist Harald Martenstein, der formuliert, dass, um eine Ideologie glaubwürdig zu vertreten, ein komplettes Ausblenden der Wirklichkeit hilfreich sei.
Bleibt die Apolyse. Niemand kann vorhersagen, wann sie eintritt. Lassen wir uns überraschen und warten wir auf die neuen Propheten.
Wolfgang Claussen