Im Licht der Nebensonnen - eine Rezension

Benedikta zu Stolbergs zweiter Roman, veröffentlicht im Boyens Verlag unter dem Pseudonym Bente Seebrandt, ist ein lesenswertes Buch. Warum? Weil es gut geschrieben ist. So ganz einfach in den Raum gestellt soll diese Behauptung aber nicht sein.

Und sie gilt natürlich vor allem für eine Zielgruppe, die sich für das Thema „menschliche Beziehungen“ interessiert. Dabei muss gesagt werden, dass es sich hier nur zum Teil um das Thema Liebe dreht, das Hauptaugenmerk aber überhaupt auf der psychischen Situation der Hauptpersonen David und Louise, aus deren Perspektive die Handlung entwickelt wird, liegt. Beide haben bereits ihr Päckchen an familiären Problemen aus der Kindheit und Jugend zu tragen, das sie unverarbeitet und fast drohend umgibt und sie in ihrer Entwicklung beeinträchtigt. David ist der ungeliebte Sohn, welcher von seinem Vater nicht die geringste Vorstellung hat und dessen Großvater Heinrich, sein Vaterersatz, kürzlich verstorben ist. Frisch ist auch die Wunde seiner zerbrochenen langjährigen Beziehung, wobei man nicht erfährt, woran diese scheiterte. Rückblickend verhält sich David wehmütig und verletzt, macht sich aber keine Gedanken darüber, was er oder sie hätten anders machen müssen. Ebenso wenig hatte er vor Jahren das Angebot des Großvaters, mit ihm seinen leiblichen Vater in Frankreich aufzusuchen, angenommen. Erst in der Faszination für Louise reift er in seinem Verhalten. Gesetzt, dass der junge Mann erst Anfang dreißig ist, ist das durchaus nicht ungewöhnlich. Louise ist verheiratet und durch diese Barriere wird er an vorschnellen Reaktionen gehindert. So hat er Zeit, diese eigenartige Frau in den unterschiedlichsten Situationen und Rollen zu beobachten. Aus der Vielzahl dieser Bilder ergibt sich eine facettenreiche Persönlichkeit, die einerseits große Stärke aufweist, die aber andererseits durch eine lieblose Kindheit im Schatten einer strahlenden und grausam egoistischen jüngeren Schwester, durch die Sorge um ihre Kinder und durch die sozialen Bedingungen in ihrer Rolle als Pastorengattin in einem Dorf aufgerieben wird. Aus dem kalten Elternhaus ist sie in eine frühe Ehe geflohen, die etwa nach zehn Jahren scheitert und sie mit zwei Kindern im Grundschulalter allein lässt. Da bietet Godber, Pastor in einem kleinen Eiderstedter Dorf, das an Tetenbüll erinnert, ihr Hand und Heim. Sie verliebt sich leidenschaftlich in das alte Pastorat, das für sie zum sicheren Hort und zur Heimat für ihre Kinder werden soll, und nimmt alle Gemeindepflichten gerne auf sich. Tochter Synje wird geboren und zum „Sonnenschein“ der Familie.

Doch der inzwischen 13-jährige Henry spielt nicht mit. Im Gegensatz zu seiner Schwester Bella, die nicht besonders ausführlich gezeichnet ist. Dann erscheint die strahlende und pflichtenlose Charlotte, künstlerische Fotografin mit dem Flair der großen weiten Welt im Pastorat. Sie nistet sich ein wie ein Kuckuckskind und bringt die Idylle weiter ins Wanken. Louise ist machtlos und entwickelt sich negativ. Symbolisch verfällt das geliebte Haus. Godber und Charlotte „lagern sich aus“ in ein Nebengebäude.

Als „Retter“ gelingt es David, Zugang zu Henry zu bekommen, während Louise nach der Katastrophe mit der kleinen Synje keine Kraft mehr hat, eine echte Mutter für ihre älteren Kindern zu bleiben. Mehr wird nicht verraten.

Es gibt Lösungsansätze, jedoch kein süßliches Happy-End.

Der Bezug zur Stormnovelle „Aquis submersus“ findet sich im Setting des Romans, dem Dorfpastorat in der Nähe Husums mit Garten und Teich. Das Schicksal des Kleinkindes bleibt in der Schuld des leiblichen Vaters, der - in beiden Fällen - wohl nicht wirklich die Ehe bricht, sich aber mit Herz und Geist schuldig macht. Jedenfalls sehen beide „schuldigen“ Väter es so, da sie das Schicksal des Kindes nicht nur als Folge ihres Handelns, sondern als Strafe für ihr Verhalten einschätzen. Storms Novelle geht nicht so stark auf die Gefühle des Pastors ein, als dass ich es in Erinnerung behalten hätte. Wie sehr liebt er Katharina? Kann er sie auffangen? Der von ihr geliebte Künstler Johannes, hier der schuldlos (?) Schuldige, wird zum zweiten Mal verbannt. Das Motiv der unglücklichen Leidenschaft ist bei Storm stärker und hoffnungsloser. Die damalige Gesellschaft lässt der Frau keine andere Chance als die Flucht in eine Vernunftehe, einen mehr oder weniger „goldenen“ Käfig. Adel, Erbrecht, Patriarchat und Moralkodex verhindern das Glück der jungen Liebenden. Die Vorstellung, ein uneheliches Kind allein oder im Schoße der doch wohlhabenden Familie großzuziehen, war utopisch. Kommunikation mit dem fernen Geliebten unmöglich. Für die heutige Jugend unvorstellbar. Ehe oder Kloster, vielleicht Selbstmord waren die einzig denkbaren Konsequenzen. Johannes hatte keine Chance, heimliche Briefe über etwaige „Verbündete“ an Katharina zu senden. Zumal er über längere Zeit keine feste Adresse hatte.

Wie viel „einfacher“ scheint uns die heutige Welt.

Falsch, die Zeiten haben sich zwar geändert, der Mensch aber nicht. Wir haben, schlicht gesagt, heute Probleme, die sich die Menschen früher gar nicht „leisten“ konnten. Auch, wenn wir uns dessen bewusst sind, ändert das nichts daran, wie sie uns belasten. Das Symbol des Lichtes der schönen, aber eisigen Nebensonnen, entlehnt aus Heines Winterreise, erscheint an bedeutenden Wendepunkten der Entwicklung für die psychische und daraus folgende soziale Isolation der Protagonistin bzw. ihre Befreiung aus derselben.

Besonders ansprechend im wahrsten Sinne des Wortes ist die Sprache der Autorin, denn Ihre ganz eigene Art, durch den besonderen Tonfall ihre Charaktere lebendig werden zu lassen, ist es nicht allein. Ausdrücke wie „Katzenkopfpflaster“ haben für mich etwas sehr Vertrautes. Die Poetik von Storms Naturdarstellungen empfindet sie für sich selbst in neuen Bildern und Vergleichen, wobei ihre Metaphern häufig auf die sinnliche Wahrnehmung des Lesers abzielen, ihn dabei aber keinesfalls durch Übertreibungen in irgendeine Richtung bedrängen. Das Lachen Louises wird mit dem spröden Rascheln des Windes im Schilf verglichen, ihre Lieblingspflanze ist der symbolträchtige Holunder. Neben den christlichen Werten des Großvaters (Glaube, Liebe, Hoffnung) treten existenzialistische Fragen Louises „Sind wir denn ganz allein?“ und romantische Sehnsüchte, Sterndeutung, Traumbilder bis hin zu geisterhaften Halluzinationen, wie wir sie auch aus Storms Dichtung an der Schwelle von der Romantik zum Realismus kennen.

Insgesamt verbindet der Roman verschiedene Themen auf erzählerisch ansprechende Art mit interessanten Bezügen zu Storm, die aber keinesfalls überstrapaziert werden, und eignet sich gut als Lektüre für stürmische Herbstabende.

Die Lesung am 10. Oktober im Kulturkeller im Schlossgang überzeugte das Publikum und hatte einen regen Besuch des Büchertisches zur Folge.

Andrea Claussen