Überblick über die Entwicklung der Abstrakten Malerei vom 19.Jahrhundert bis Ende der 60er-Jahre

Wenn man einmal darüber nachdenkt, gab es abstrakte und abstrahierte Formen, sobald Menschen künstlerisch gestaltend tätig wurden, und zwar sowohl als verzierende Muster oder Symbole, als auch gewollt in Abbildungen von Mensch, Tier, Landschaft und Architektur.

Beschränken wir uns auf die Entwicklung in Europa und der Neuen Welt auf ihrem Weg zur Moderne, so kann man im Groben drei Zeitabschnitte zu Hilfe nehmen:

1.     die Vorläufer im 19. Jahrhundert,

2.     die Zeit von 1900 bis zur Machtübernahme der Nazis und

3.     die Zeit nach 45 bis heute.

Viele Künstler im 19. Jahrhundert experimentierten mit abstrakten Vorgehensweisen, bzw. verwendeten die Ergebnisse als Skizzen und Studien oder für Teile ihrer Werke, ohne jedoch die Absicht zu haben, etwas völlig Ungegenständliches für sich allein darzustellen.

Bereits im frühen 19. Jahrhundert gab es mit dem jungen Engländer William Turner eine Ausnahmeerscheinung, die den im Herkömmlichen verhafteten Kunstkritikern über das gesamte Jahrhundert hinweg Anlass zu vernichtenden Kritiken gab. Trotzdem war Turners Karriere äußerst erfolgreich: Von seinem 15. Lebensjahr an stellte er auf jeder Akademieausstellungen in London aus und wurde bereits mit 32 Professor. Bei Turner werden ganze Bilder oder große Teile derselben zu Wetterereignissen von Licht-Luft-Wasser und Erde mit derartiger Formauflösung, dass man nur noch etwas Landschaftliches erraten kann. Oder einzig das Schiff im Zentrum verrät, dass ein Sturm auf hoher See gemeint ist. Bereits in den 1820er Jahren entstanden Skizzen zu Interieurs und Landschaften, die man heute eindeutig als abstrakte Malerei bezeichnen würde. Dabei abstrahiert er sowohl von beobachteten, als auch von imaginären Formen oder lässt sich vom Zufall leiten, den er aber bewusst provoziert.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts finden sich vermehrt Künstler wie der Maler und Schriftsteller Victor Hugo und seine Kollegin George Sand, die sich in ihrer Malweise von Naturabbildung und Gegenständlichkeit entfernen.

Victor Hugo experimentierte gezielt mit kleinformatigen Tusche- und Aquarellflecken durch Nass-in-Nass-Technik, Decalcomanie, Klappdruck und Frottage, die er z.T. mit Rohrfederzeichnungen leicht präzisierte und denen er auch Titel gab. Sand hingegen verzichtete bei ihrer Nass-in-Nass Aquarellmalerei auf grafische Elemente.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen aus Kaffeeflecken weiterentwickelte Bilder regelrecht in Mode.

Durch Zufallstechniken, Monotypie, Spachtelauftrag und Klecksografie entstanden zu dieser Zeit auch Malereien, die der Franzose Gustave Moreau wirkungsästhetisch als dramatisch bewegte Hintergründe in seinen symbolistischen Gemälden nutzte.

Und dann begann das 20. Jahrhundert. Die Menschen waren voller Erwartungen. Die Industrialisierung sollte ihr Leben erleichtern, der Fortschritt sollte Kriege überflüssig werden lassen. Es wimmelte besonders in den ersten 30 Jahren von Manifesten, Konzepten und Heilslehren. Aus dem Spiritismus des alten Jahrhunderts entwickelten sich die Anthroposophie und andere esoterische Richtungen. Es bildeten sich überall Künstlerkolonien, Avantgarden und alle wollten mit Konventionen und Regeln brechen, waren auf der Suche nach der neuen Zeit.

Die erste bewusst abstrakt geometrisch arbeitende Künstlerin war nach neusten Erkenntnissen die Schwedin Hilma af Klint. Mit 18 ging sie an die königlich-schwedische Kunstakademie in Stockholm, wo sie ein fünfjähriges Studium absolvierte. Wie viele ihrer Zeitgenossen interessierte sie sich für Theosophie und kam über das spirituelle Bedürfnis von der erlernten Landschaftsbild- und Porträtmalerei zu rein abstrakten geometrischen Bildern. Ihr erstes absolut ungegenständliches Bild malte sie 1906 und damit fünf Jahre vor Kandinskys Komposition V. Es folgten bis zu ihrem Tod 1944 über tausend weitere, zum Teil 2,50m x 4m große farbenfrohe, aber auch schwarz- weiße Gemälde, die z.T. an spätere Op-Art Werke erinnern. Erst 20 Jahre nach ihrem Tod durften die Werke, so verfügte sie, öffentlich ausgestellt werden.

In Frankreich entstand unterdessen innerhalb der Avantgarde aus dem Impressionismus heraus 1905 der Fauvismus, die erste Bewegung der klassischen Moderne. Fester abgegrenzte leuchtende Farbflächen kennzeichnen die Malweise der Fauvisten, u.a. Matisse, Derain, Dufy und Braque. Schon 2 Jahre später hat sich daraus der Kubismus entwickelt, dem sich viele Fauvisten anschließen. Picasso stößt dazu. 1909 beginnt mit Marinettis Manifest der Futurismus in Italien. Er soll Schnelligkeit festhalten, Gefahr, Mut und den Krieg verherrlichen und die Frauen verachten, modern sein und gegen das Establishment. Faschistische Tendenzen sind deutlich. Gemalte zackige Collagen und der Einsatz von Schrift kennzeichnen die Bilder. 

1911 malt Kandinsky noch in Russland das Bild Komposition V, welches er sein Leben lang nicht müde wird, als erstes „rein abstraktes“ Bild der Welt zu proklamieren. Das bleibt nachhaltig in den Köpfen, obwohl auch in diesem Bild eine stilisierte Figur und ein Berg zu erkennen sind. Und, weil niemand Hilma zu kennen scheint.

Und genau an dieser Stelle muss man auf die beiden Zweige aufmerksam machen, in die sich die Abstrakte Malerei in der Klassischen Moderne entwickelt, nämlich das von gesehenen oder gemeinten imaginären Objekten Abstrahierte, somit aber noch erkennbar Gegenständliche. Und auf der anderen Seite das aus Flecken, Flächen, Kleksen und Verläufen, Linien und Punkten oder aus der Geometrie entwickelten Flächen bestehende Ungegenständliche, auch gegenstandslose Kunst genannt. An dieser Stelle soll nur die Entwicklung der gegenstandslosen Malerei weiterverfolgt werden.

Abspaltungen ergeben sich z.B. mit dem Orphismus 1912 (dazu zählen Delaunays runde Bilder mit bewusstem Simultankontrast).

Ebenfalls 1912 stellte der tschechische Maler František Kupka als erster abstrakte Bilder im Pariser Herbstsalon aus. Er ging vom gegenständlichen Bild aus, das er immer stärker abstrahiert hatte.

Ab 1915 zeichnet sich mit der Ausstellung der Suprematisten (Vorrang der reinen Empfindung vor der Natur, Kasimir Malewitsch, „schwarzes Quadrat auf weißem Grund“) in St.Petersburg die Entwicklung des Konstruktivismus ab, zu dem auch Piet Mondrian und Sophie Täuber-Arp zu rechnen sind. De Stijl, das Bauhaus und die Züricher Konkrete wurden stark vom Konstruktivismus beeinflusst.

Der Begriff „Konkrete Kunst“ wurde 1924 von Theo van Doesburg geprägt, er fordert 1930 in einem Manifest die Materialisierung von Geistigem, legt den Schwerpunkt auf Form und Farbe und besteht auf vorheriger Konzeption des Kunstwerkes.

Dann kamen Nazizeit, Stalinismus und der Zweite Weltkrieg.

In den späten 40er Jahren gab es in der NY School of Art eine Entwicklung, die als Abstrakter Expressionismus in die Kunstgeschichte einging.

Hier bildeten sich zwei unterschiedliche Richtungen aus.

Die eine könnte man als Farbfeldmalerei ohne bestimmte Kompositionsabsicht oder vorab beschlossene Bildvorstellung bezeichnen, die sich aber im Laufe des Malens ergeben können.

Prominente Vertreter sind Willem de Kooning und Mark Rothko. Großflächige, homogen gefüllte Farbfelder entstehen, wobei die Farbe auf unterschiedlichste Weise aufgetragen wird.

Die andere Richtung arbeitet rein spontan, gestisch, also aus der unmittelbaren Bewegung heraus. Wir kennen sie als „Action painting“ und Jackson Pollock war in den 50ern und 60ern die Sensation überhaupt.

Im Grunde arbeitet Pollock mit Ganzkörperklecksgrafie.

In Konkurrenz dazu bildet sich in der sogenannten „Zweiten École de Paris“ die europäische „Lyrische Abstraktion“ heraus, zu der auch der Tachismus zählt. Sie sagt sich bewusst von der „kalten“ geometrischen Abstraktion los. Sie basiert auf Intuition und Improvisation. Die erste große Ausstellung war 1947 im Palais du Luxembourg. (G.Mathieu, Wols, Signier, Le Moal und Picabia (starb 1953), der bereits bei den Fauvisten und Kubisten dabei gewesen war, gehörten dazu.)

Jetzt entsteht auch die Bezeichnung „Informel“ als Oberbegriff für eine künstlerische Haltung, welche Form und Komposition und geometrische Abstraktion ablehnt. Er wird also nicht für eine Stilrichtung verwendet, sondern lässt sich immer wieder im Laufe der folgenden Jahrzehnte auf unterschiedliche Künstler anwenden. Es geht dabei um die Spannung zwischen Auflösung und Entstehung von Formen während des Malprozesses.

Bis Ende der 50er besteht die Lyrische Abstraktion als vorherrschende Kunstrichtung in Westeuropa, der Tachismus findet sich bis Ende der 60er. Dann entsteht die Op-Art, eine neuere Version in der Familie der geometrischen Abstrakten. Abstrakte Formmuster und geometrische Farbfiguren, oft in schwarz-weiß, beherrschen die Szene durch Flimmereffekte und optische Täuschungen (Victor Vasareli, Bridget Riley). In den USA kommt die Minimal Art im Kontrast zum Abstrakten Expressionismus auf.

In den Siebzigern gab es dann noch poppige ungegenständliche Malerei, auch mit der Spritzpistole gefertigte Bilder. Die Analytische Malerei setzt sich Anfang der 70er mit Qualität und Wesen der Malerei an sich auseinander, experimentiert mit monochromem Farbauftrag und unterschiedlichen Bildträgern.

Im Grunde genommen gibt es von jetzt an Varianten des bereits Dagewesenen, die durch das Können und die Fantasie und Intuition einzelner Künstlerpersönlichkeiten einmalig werden. Man denke z.B. an Hundertwasser oder den späten Gerhard Richter.

Im Prinzip bleibt es bei den bei den Wegen der geometrischen und nichtgeometrischen Gegenstandslosen Malerei auf der einen und der vom erkennbaren Gegenstand mehr oder weniger stark abstrahierenden Malerei auf der anderen Seite. Wobei zu beachten ist, ob ein Konzept zugrunde liegt oder spontan vorgegangen wird. Natürlich gibt es auch immer wieder Mischformen. Und man bedenke: In der Kunst ist alles erlaubt.

Andrea Claussen