Almost here - eine Entdeckungsreise in fremde Welten

Der Kunstverein Husum und Umgebung zeigt Farbstiftzeichnungen von Inge Marion Petersen im Husumer Rathaus

Die in Langberg-Handewitt geborene Inge Marion Petersen lebt und arbeitet als freischaffende Künstlerin in Hannover. Dort studierte sie bei Professorin Verena Vernunft freie Kunst, machte ihr Diplom 1999, 2000 den Meisterschülerabschluss und wurde Mitglied im BBK.

Es folgten bundesweit zahlreiche Gruppen- und Einzelausstellungen, zwei davon in Frankreich. 2019 wurde die Künstlerin für den Kunstpreis der Kulturstiftung der Sparkasse Karlsruhe nominiert. Ihr Atelier befindet sich in der alten Eisfabrik im Herzen von Hannover. Zentral, und doch ruhig, kann sie sich dort ihrer sehr intensiven Arbeitsweise widmen.

Die Jury des Kunstvereins war spontan überzeugt von der Ausstrahlung der Zeichnungen. Fantasievoll und von hoher erzählerischer Qualität führt die Künstlerin den Betrachter auf immer neuen seltsamen Wegen an Wesen heran, die für den unaufgeklärten Betrachter auf den ersten Blick irgendwie zwischen fantastischen Tierwesen, Reagenzglassprösslingen und außerirdischem Leben liegen. Diese Aussage erfasst aber die dahinter verborgene Idee nur unvollständig.

Es geht eher um die künstlerische Darstellung von Gefühlen und Seelenzuständen, die zwar gegenständlich, aber nicht konkret ist und sich auch inhaltlich nicht festlegen will. Wobei jedem Bild für die Künstlerin selbst eine präzise, aber sehr persönliche Aussage zugrundeliegt.

Sie plant lange und kritisch, was sie zu Papier bringen will, und macht diverse Skizzen, bevor sie zu ihren Farbstiften greift. Denn das Medium Farbstift lässt keinen Raum für nachträgliche Korrekturen.

Dabei überwiegen stark farbige Arbeiten in meist sehr großen Formaten. Die hier ausgestellten Werke bezeichnet die Künstlerin als ihre „kleineren Arbeiten“. Nur an den Stirnwänden sehen Sie einige der großen Zeichnungen.

Doch auch auf den kleineren Bildern lässt sich die aufwändige und deshalb auch so eindrucksvolle grafische Handschrift der Künstlerin gut erkennen. Auch scheinbar „einfarbige“ Flächen, wo der Laie nur dichtere oder weniger dichtere Schraffuren vermutet, bestehen aus einem engen Netz übereinander liegender Schichten von mindestens sechs verschiedenen Farben.

Nach oben ist die Grenze besonders bei den großformatigen Arbeiten offen. Dadurch entsteht eine extreme, magische Leuchtkraft. Auch das, was ich der Einfachheit halber zunächst als Schraffur bezeichnet habe, ist aus der Nähe betrachtet eher ein Gewebe aus nicht starren, sondern beweglich oder natürlich verlaufenden Formstrichen, die ihr Eigenleben führen. Manchmal scheint die Fläche gerade aufgehört haben zu pulsieren und wird dieses wieder tun, sobald man wegschaut.

Es ist dieses Organische, was die meisten Arbeiten gemeinsam haben, auch die beiden großen  Zeichnungen in Grautönen weisen es auf.

Ebenso gibt es Auffälliges beim Bildaufbau. Man scheint durch einen Fotoapparat zu sehen. Fast alle Motive sind angeschnitten, was der Vorstellungskraft des Betrachtenden die Möglichkeit zum Weiterspinnen gibt.

Oder man kommt sich als Forscher vor, der eine Entdeckung unter dem Mikroskop macht von bisher nie gesehenen Strukturen.

Dieser Überraschungseffekt ist erstaunlich. Und erst, wenn der ganze Wahrnehmungsprozess abgeschlossen ist, kommen die Fragen. Und die sind nicht zu trennen von den damit verbundenen Empfindungen. Angenehmes, Schönes und Vertrautes lockt uns an wie die Schönheit der fleischfressenden Pflanze das Insekt. Aber was lauert dahinter? Abgründe können sich auftun. Ängste, geheime Lüste, Grausamkeit der Natur, Hüllenlosigkeit oder das Bewusstsein leerer Hülle. Fressen und Gefressenwerden, Begehren und Verlangen.

Auf jeden Fall Konfrontation.

Und immer wieder die versöhnende Ästhetik.

Aber halt, da ist doch durchaus das eine oder andere Augenzwinkern zu erkennen…

Eigentlich hat die Künstlerin ihre Ausstellung bewusst in zwei Bereiche für die beiden Stockwerke unterteilt. Im 2. Obergeschoss steht die Form an sich im Vordergrund.

Im 3. Obergeschoss geht es um Hybride, Mischformen von Lebendigen, von Mensch, Tier, Pflanze und irgendwie Organischem. Kurz denke ich an Hieronymus Bosch, an Chagall und Dalí. Aber nur sozusagen in Ansätzen. Denn hier werden keine epischen Geschichten erzählt. Es gibt bei vielen der Werke weder Landschaften, noch Innenräume. Bei den neueren Arbeiten taucht so etwas wie ein Raum oder Hintergrund schon hier und da auf.

Im 3. Obergeschoss geht es um fremde Räume, von der Künstlerin als Zwischenräume benannt. Räume der Wahrnehmung, Geistes- und Seelenzustände, die nicht alltäglich sind, aber vielen doch nicht unbekannt. Übergänge können es sein von einer Bewusstseinsebene in eine andere, wie im Halbschlaf, im Traum, in Trance oder Hypnose. Ein Zustand ist vorbei, der andere noch nicht erreicht. Eine Tür hat sich geschlossen, die nächste noch nicht geöffnet. Etwas davon steckt im Titel der Ausstellung: Almost here, beinahe hier.

Die Ausstellung ist bis zum 29.Juli zu den Öffnungszeiten im Rathaus Husum zu sehen.

Andrea Claussen