Mehr als nur eine verrückte Bohèmienne - Franziska zu Reventlow und die Dersertion ihres Sohnes Rolf im Ersten Weltkrieg

Zu einer szenischen Lesung der besonderen Art hatte der Verein 5 plus1 am 29.7.2018 in den Rittersaal eingeladen um Fanny Reventlows anlässlich ihres 100. Todestages zu gedenken. „Sie wurde so alt wie das Kaiserreich“, betonte Dörte Nicolaisen in ihrer Einführung.

„Geboren 1871 in Husum, gestorben 1918 in Locarno.“ Fanny wurde nur 47 Jahre alt, weshalb sie uns immer als „junge Frau“ in Erinnerung bleibt. Gestorben ist sie auf tragische Weise während einer Notoperation. Bei einem Sturz mit dem Fahrrad hatte sie sich lebensgefährliche innere Verletzungen zugezogen.

Schwerpunkt der Lesung war, basierend auf Briefen, Franziska zu Reventlows Essay „Die Kehrseite des deutschen Wunders“ und ihre im Simplicissimus erschienene Erzählung „Wir Spione", Zeitungsberichten und Interviews einer französischen und zweier amerikanischer sowie deutscher Blätter. Auch wurde aus Schriften ihres Sohnes Rolf zitiert, dessen Vater sie nie preisgab. Es gibt viel über Fanny zu berichten, über ihre Widerspenstigkeit von Kind an, über ihre Rolle als Enfant terrible und das Scheitern sämtlicher Zähmungsversuche bis hin zum Bruch mit dem Elternhaus. Ihre Lehrerinnenausbildung, die Versuche als Malerin und das Scheitern der ersten Ehe. Das wilde und intellektuell reiche, aber ansonsten sehr entbehrungsreiche Leben in München, die Scheinehe mit dem kurländischen Baron Alexander von Rechenberg-Linten, durch die sie die russische Staatsbürgerschaft erhielt sowie ein Erbe, welches sie drei Jahre später durch einen Bankenkrach verlor.

Doch das nur am Rande. Ab 1910 lebte Fanny mit ihrem dreizehnjährigen Sohn, von dem sie auch als jungem Mann noch als „Bubi“ sprach, in der italienischen Schweiz, wo sie ihre „Schwabinger Romane“ schrieb.

Befand sich die ungewöhnliche Gräfin, die keine höhere Tochter oder eingeschränkte Ehefrau hatte sein wollen, sich schon immer in einer „Daueropposition zum Kaiserreich“, so wurde nach 1914 mehr als deutlich, mit welch kritischem Blick sie die Ausbreitung des bisher nur preußischen Militarismus in der doch so freien, kosmopolitischen und künstlerischen bayrischen Metropole betrachtete. Mit großer Beobachtungsgabe, feiner Ironie und messerscharfem politischen Urteilsvermögen durchschaut und beschreibt die jetzt Außenstehende die Veränderungen in München. Mit großem Bedauern und Enttäuschung stellt sie fest, dass die Lügen, Deutschland sei unschuldiges Opfer der Kriegstreiberei seiner Feinde und sein Militarismus nicht stärker als der in Europa übliche sich in den Köpfen selbst Intellektueller und Künstler festsetzen, die mit Enthusiasmus der Fahne folgen. Zu dem Hass auf den „französischen Erzfeind“, der sich in der Verpöhnung modischer Kleidung, im Umschreiben der Speisekarten und dem generellen Versuch, französische Wörter aus der deutschen Sprache „auszumerzen“, zeigt, gesellt sich die Parole „Gott strafe England!“ (Auf die Frage: „Mein Fräulein, Sie hassen England doch sicher auch?“ hätte sie am liebsten geantwortet: „Wie kann ich etwas hassen, das ich gar nicht kenne?“)

Der 17-jährige Rolf lässt sich zum großen Kummer seiner Mutter jedoch von dieser üblen populistischen Welle mitreißen und nur mit Mühe gelingt es Fanny, ihn wieder in die Schweiz mitzunehmen, wo er dann im April 1916 seinen Gestellungsbefehl erhält, dem er Folge zu leisten hat. Inzwischen hat die Kriegsbegeisterung Rolfs nachgelassen, doch ahnt er ja nicht, was hinter der „Teilnahme an einem großen geschichtlichen Ereignis, wie er es nennt, wirklich steckt. Alles in allem schlägt er sich dann recht gut für einen so behüteten Sohn ohne viel soziale Erfahrung mit der Peergroup. Er hat Glück und überlebt dank einer vergleichsweise leichten Verwundung Himmelfahrtskommandos im Schlamm und Artilleriebeschuss an der französischen Front in der Picardie. Schnell ist ihm klar, dass hier nur ahnungslose junge Männer als Kanonenfutter verheizt werden ( Wannen mit abgetrennten Gliedmaßen im Lazarett!), während die Führungsstäbe hoch und trocken sowie bestens verpflegt von abseits die Geschicke lenken. Spätestens nach dem Lesen der Feldpost gefallener französischer Soldaten wird ihm uns seinen Kameraden ihre Situation endgültig bewusst. („Warum schießen wir auf die?“)

Fanny ist verzweifelt. Schon zu Kriegsbeginn war ihr aufgefallen, wie ernst und schweigsam die auf Heimaturlaub in München weilenden Frontsoldaten waren, die einzigen, die nicht über den Krieg redeten. Sie sie keine Vaterlandsverteidigung, keinen notwendigen Kampf für die Freiheit oder zu erhaltende Werte. Und nur den Launen des Kaisers wegen ist sie nicht bereit, ihren Sohn zu opfern. Genauso ist auch Rolf kein Feigling. Er hält durch, zeigt sich auch tapfer bei seiner Desertion und kämpft später im Spanischen Bürgerkrieg für Freiheit und gegen Francos Faschismus.

In einem Brief an den befreundeten Münchner Philosophen Paul Stern schreibt sie: „Ich habe gar keine Begabung zur Heldenmutter.“ Zu Friedrich Kitzinger spricht sie von schlichter Verzweiflung. Nach einem Alptraum in einer Gewitternacht beschließt sie, „ihren Sohn aus dem Gemetzel zu retten.“ Dazu nutzt sie seinen 6-tägigen Urlaub im Juli 1917 in Konstanz, wo sie ihn unter Aufsicht treffen darf. Die Kommunikation klappt trotzdem und nach einem zweiten Anlauf gelingt Rolf die Flucht in Uniform. In einem als „Urlauber“ gemieteten Ruderboot fährt er, die letzten Meter noch unter Gewehrfeuer eines als Fischer Getarnten in den rettenden Hafen des Schweizer Nachbarortes Kreuzlingen, wo seine Mutter auf ihn wartet:  „Ich hatte dem Kaiser meinen Sohn entrissen!“

Rolf verbrachte nur noch kurze Zeit mit seiner Mutter, wurde aus dem Tessin ausgewiesen und zu Arbeitsmaßnahmen verurteilt. Dann kam Fannys so tragischer tödlich ausgehender Unfall.

Ihr Sohn überlebte die Bayrische Räterepublik, ein Attentat in Breslau 1933, wo er für die SPD Zeitung „Volkswacht für Schlesien“ arbeitete, die Flucht aus Nazideutschland, den Spanischen Bürgerkrieg (Er nahm die spanische Staatsbürgerschaft an) und eine zweifache französische Internierung in Algerien während des Zweiten Weltkrieges.

1953 kehrte er nach Bayern zurück und starb 1981. Er ruht neben seiner Mutter in Santa Maria in Selva, Locarno.

Sehr anschaulich und eindringlich belegten die von Eva Bruns, Franziska Horschig, Astrid Kramer, Angela Reinhard und Angelika Zöllmer-Daniel vorgetragenen Textpassagen und ein kleiner Wortwechsel zwischen „Mutter und Sohn“ die Ausführungen Dörte Nicolaisens.

Die musikalische Begleitung von Ralf Kukowski sorgte sehr einfühlsam dafür, dass die sehr zahlreich erschienen Gäste das Gehörte in sich aufnehmen und verarbeiten konnten. Gerade in der heutigen Zeit eines erstarkenden Populismus und unreflektierten überall aufkommenden Nationalismus darf man sich über eine Frau wie Franziska zu Reventlow freuen.

Andrea Claussen