Bild Festival. Menschen vor einem Zelt. 60er Jahre

Wein, Weib und Gesang

Jahrhunderte lang hatten wir Wein, Weib und Gesang. Wir hatten Väter und Großväter, die waren Arbeiter, Kommunisten, Großgrundbesitzer, Industrielle, Kaisertreue oder Widerstandkämpfer. In den oberen Etagen wurden Orgien gefeiert. Jetzt haben wir Silver-Ager, die den Götzen Konsum anbeten und Dax-Vorstände, die immer noch Orgien feiern, Prostituierte und sexuelle Übergriffe gibt es für Portogeld der Konzerne. Die Päpste feiern nicht mehr mit.

Dann kam die Zeit von Sex and Drugs and Rock’n Roll. Rolling Stones, Jimi Hendrix und Pink Floyd. Sinnsuche, sexuelle Revolution und überquellende Aschenbecher. Es gab noch Neger und Zigeuner. Versuche der muffigen Enge der Gesellschaft zu entgehen. Und dann? Die, die für eine veränderte Welt auf die Straßen gegangen waren, machten sich auf den Weg durch die Instanzen und verloren sich darin. Das letzte Aufbäumen von Joschka Fischer, der bei seiner Vereidigung zum Umweltminister Turnschuhe trug, bevor er Atommülltransporte genehmigte, während seine Basis protestierend auf der Straße saß. Auch die Musik gab auf und verflachte, Madonna und Neue deutsche Welle, gipfelnd in Helene Fischer und Florian Silbereisen - lasst uns in Ruhe! Softies, Teds und Popper. Weichgespülte Männer und Feministinnen. Eine Frauenquote für die Dax-Unternehmen und ein angehängtes „innen“ im Behördendeutsch - Verbrecher und Verbrecherinnen, Vergewaltiger und Vergewaltigerinnen.

Todesängste, wenn sich im Fernsehen jemand eine Zigarette anzündet, ganz zu schweigen vom Nachbartisch im Straßencafé. Heftige Proteste gegen Massentierhaltung oder Müllverbrennungsanlagen, aber nur, wenn sie vor der eigenen Haustür geplant sind. Friedhofskerzen für abgerissene Gebäude. Hunde sind zu Möpsen geworden. Satirisch formulierte Loriot einst: Eine Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos. Heute halten das viele für die Wahrheit - Realsatire. Gezüchtet mit eingedrückter Schnauze und Unterbiss, früher hätte es die Tierschützer auf den Plan gerufen. Die haben heute anderes zu tun. Früher nannte man Soldaten Mörder, ein Tier zu töten war allenfalls Sachbeschädigung - heute bezeichnen es einige als Mord. In einer vereinsamenden Welt muss das arme Tier als Ersatz für die fehlenden Kuscheleinheiten herhalten. Der Zerfall der Familienstrukturen treibt seltsame Blüten. Gesprächsrunden beschäftigen sich nicht mehr mit den Kindern, sie handeln von den kleinen Rackern, die Sofakissen zerkauen, mit Frauchen das Bett teilen, Halstücher tragen und mit veganen Leckerlies gefüttert werden. Artgerecht geht anders, aber artgerecht gilt ohnehin nur für die Anderen. Verzerrte Perspektiven erhalten unser eigenes Weltbild.

Geiz ist geil geworden. Egal wie, Hauptsache billig. Leben auf Kosten anderer, auf Kosten der Umwelt und der Natur. Ausbeutung der Drittweltländer. Wir schicken denen unseren Müll, so haben sie doch wenigstens ein paar Einnahmen, jedenfalls die dort herrschenden Kasten.

Und Angst, immer wieder Angst. Ein hochtechnisierter Medizinbetrieb, in dem einige richtig viel Geld verdienen. Der Patient bleibt auf der Strecke. Er ist ohnehin nur noch Mittel zum Zweck. Die Pharmaindustrie steckt mehr Geld in die Werbung als in die Forschung. Nahrungsmittelphobiker und Milliardengeschäfte mit nachgewiesenermaßen nutzlosen Nahrungsergänzungsmitteln.

Worthülsen vernebeln die tatsächlichen Gegebenheiten, Jobcenter und Gebühreneinzugsservice. Stolz werden unter drei Millionen Arbeitslose gemeldet, sechs Millionen Hartz IV-Empfänger finden keine Erwähnung. „Praxen ohne Grenzen“, ein weiteres Armutszeugnis.

Und der mündige Bürger? Er will doch nur Teilhabe, auch ein Smartphone, ein Auto, einen Flachbildschirm oder am Modediktat teilnehmen können. Aber billig muss es sein, auch wenn anderswo auf der Welt die Menschen dafür verrecken, die Luft und die Böden verseucht werden.

Wenn der Stundenlohn stimmt, schaufeln wir uns auch das eigene Grab. Irgendwo ist irgendwann etwas völlig schiefgelaufen.

Wolfgang Claussen